Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Leinwand. Die Darstellung von Delilahs Raum ist erstaunlich realistisch. Ich wünschte, ich hätte Rapscullios künstlerisches Talent.
»Wird schon schiefgehen«, murmle ich und nehme den Pinsel zur Hand, den Rapscullio auf der Palette hat liegen lassen. Aus dem hintersten Winkel der Höhle hole ich mir Rapscullios alten Spiegel – Delilah und ich sind beide der Meinung, mit dem Motiv direkt vor der Nase werde ich in der Lage sein, mich einigermaßen passabel selbst zu porträtieren, auch wenn ich kein Künstler bin. Ich berühre mit der Pinselspitze die Leinwand und trage einen kleinen Tupfer in der Farbe meines Ärmels auf. Anschließend spüle ich den Pinsel aus und mische eine neue Farbe in meinem Hautton.
Doch dann zögere ich, lege den Pinsel weg und gehe hinüber zum Tisch, wo der Schmetterling immer noch vergeblich gegen die Wände des Marmeladenglases flattert. Ich drehe am Deckel und sehe ihn durch das Loch in der Höhlenwand davonfliegen.
Nur für den Fall, dass etwas schiefgeht, wird zumindest einer von uns beiden frei sein.
D elilah
Warum braucht er bloß so lange?
Seit anderthalb Stunden warte ich auf ihn, und immer noch nichts, rein gar nichts. Nada . Fehlanzeige.
Ich könnte das Buch aufschlagen.
Ich habe ihm gesagt, dass ich das Buch nicht aufschlagen werde.
Sobald ich es nämlich tue, ist alles, was er bei Rapscullio vielleicht erreicht hat, dahin, und die Geschichte fängt wieder von vorne an.
»Oliver«, sage ich laut. »Das ist lächerlich.«
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.«
Ich zucke zusammen, als ich die Stimme meiner Mutter höre. Mit besorgtem Blick steht sie in der Tür.
»Delilah, es ist nach Mitternacht. Und du redest schon den ganzen Abend lang mit dir selbst. Bitte, widersprich mir jetzt nicht. Ich habe dir durch die Tür zugehört …«
»Du hast mich belauscht ?«
»Mein Schatz«, sagt meine Mutter und setzt sich aufs Bett. »Kann es sein, dass du jemanden zum Reden brauchst?« Sie zögert. »Jemanden, den es wirklich gibt, meine ich.«
»Ich spreche doch mit jemandem …«
»Delilah, ich kenne die Symptome von Depressionen – und ich weiß, wie man sich dabei fühlt. Als dein Vater uns verlassen hat, musste ich mich jeden Morgen aus dem Bett quälen, nur um dich in die Schule zu bringen, und dann den Rest des Tages über so tun, als wäre alles in Ordnung. Aber meinetwegen brauchst du kein Theater zu spielen.«
»Mom, ich bin nicht depressiv …«
»Du verbringst Stunden allein in deinem Zimmer. Du sagst, du hasst Schwimmen, und du hasst die Schule. Und deine einzige Freundin sieht aus wie ein Vampir …«
»Du erzählst mir doch immer, dass man die Leute nicht nach ihrem Äußeren beurteilen soll«, halte ich dagegen und muss sofort an Oliver denken. »Mir geht es gut. Ich wäre jetzt einfach am liebsten allein.«
Aus der Miene meiner Mutter schließe ich, dass ich genau das jetzt nicht hätte sagen dürfen. »Ich versuche, am Montag einen Termin bei Dr. Ducharme zu bekommen …«
»Aber ich bin nicht krank!«
»Dr. Ducharme ist ein Psychiater«, sagt meine Mutter sanft.
Ich will etwas entgegnen, doch ehe ich den Mund öffnen kann, sehe ich neben der linken Schulter meiner Mutter etwas flirren.
Es ist eine Hand.
Eine körperlose, schwebende, fast durchsichtige Hand.
Ich blinzle und reibe mir die Augen. Irgendwie muss ich dafür sorgen, dass meine Mutter das Zimmer verlässt, und zwar sofort.
»Na gut«, sage ich. »Wie du willst.«
Ihr bleibt der Mund offen stehen. »Wie bitte? Du machst keine Szene deswegen?«
»Nein. Dr. Duwasauchimmer. Montag. Verstanden.« Ich ziehe sie hoch und begleite sie zur Tür. »Mann, ich hab gar nicht gemerkt, wie müde ich bin! Gute Nacht!«
Ich schlage die Tür zu und drehe mich um, überzeugt, dass die Hand verschwunden sein wird – aber da ist sie, und jetzt hängt auch noch ein Arm dran.
Bloß dass der Arm flach und zweidimensional ist. Wie in einem Comic. Genau das habe ich befürchtet, sollte Oliver den Übergang in diese Welt schaffen.
Mir wäre es lieber, er bliebe, wie er ist, und würde sich nicht verändern. Wenn doch nur andere Leute – meine Mutter zum Beispiel – genauso dächten, was mich betrifft.
Ich schnappe mir das Buch und schlage es auf Seite 43 auf. Oliver steht unten an der Felsklippe. Während ich ihn ansehe, verschwinden die blauen Farbspritzer von seinem Wams, und bald sieht er genauso aus, wie er auf Seite 43 immer ausgesehen hat. »Was tust du da?«, schreit
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