Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Freund, du brauchst eine Jungfer in Nöten.« Mehrere Einhörner wiehern, als ich zu nah vorbeigehe. »Ich hab’s!« Ich schnippe mit den Fingern. »Ich werde sterben.«
»Wie bitte?«
»Nicht in Wirklichkeit. Nur so tun. Dann kannst du mich vor Seraphimas Augen retten.«
»Ollie, nimm’s mir nicht krumm, aber du gibst eine schrecklich hässliche Prinzessin ab. Und ich werde dich nicht küssen, um dich aus deinem vorgetäuschten Schlaf zu wecken, kommt gar nicht in Frage.«
»Musst du ja auch nicht, Frump. Wir werden so tun, als hätte mich ein Einhorn aufgespießt. Du brauchst bloß meine vorgetäuschte Blutung zu stillen.« Ich bücke mich über einen Zuckerbeerenbusch und pflücke eine Handvoll Früchte.
Frump blickt unruhig in die Ferne. »Könntest du vielleicht später Beeren pflücken? Sie wird jeden Moment hier sein.«
»Ich habe nicht vor, sie zu essen«, murmle ich und zerdrücke die Beeren in der Hand, bis nur noch ein roter Matsch übrig ist. Ich öffne mein Wams, sodass das weiße Hemd darunter zum Vorschein kommt, und schmiere den Beerensaft auf den Stoff. Ein roter Fleck prangt mitten auf meiner Brust.
»Das einzige Problem«, meint Frump, »ist, dass noch nie jemand von einem Einhorn aufgespießt wurde. Sie sind die entzückendsten Wesen im ganzen Buch.«
»Na ja … vielleicht habe ich eines von ihnen so richtig zur Weißglut gebracht«, schlage ich vor. Ich lege mich hin, lehne den Kopf gegen einen Stein und bedecke die vorgetäuschte Wunde mit der Hand.
Frump dreht sich aufgeregt im Kreis. »Es wird nicht klappen, Oliver. Sie wird dahinterkommen. Ich bin kein guter Schauspieler …«
»Willst du mich veräppeln? Du spielst jeden Tag einen Hund. So schwierig kann das hier nicht sein.«
Plötzlich weht uns über die Wiese eine hohe, misstönende Melodie entgegen. Die Einhörner wiehern und stieben auseinander. »Ach, Oliver«, trällert Seraphima. »Spielen wir vielleicht Verstecken, Liebster?«
»Oh, das ist gut, wirklich gut«, flüstert Frump bei einem Blick in mein Gesicht. »Du siehst echt krank aus.«
»Konzentrier dich«, zische ich. »Fr … ump …«, keuche ich. »Hilf mir …«
Seraphima kommt über die Wiese gerannt, und als sie mich blutbeschmiert am Boden liegen sieht, kreischt sie auf. »Oliver!«
Frump springt auf meine Brust. »Halt durch, mein Freund«, sagt er, dann wendet er sich an Seraphima. »Eins von den Einhörnern ist durchgedreht. Oliver hat viel Blut verloren.« Frump drückt seine Pfote genau auf die Wunde. »Nehmt mir das Halsband ab«, fordert er.
»Wie bitte?«
»Um einen Druckverband zu machen«, sagt Frump.
Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Seraphima ihn ansieht, wie sie ihn noch nie zuvor angesehen hat. Aber in ihrem Blick liegt keineswegs Bewunderung.
Sondern Rivalität.
Sie packt ihn mit beiden Händen und schleudert ihn von mir weg. »Aus dem Weg, Hund«, knurrt sie und kniet sich neben mich. »Geh nicht zu den Engeln, Oliver«, schluchzt sie. »Bleib bei mir!«
Nach diesen Worten beugt sie sich herab und verschließt meinen Mund mit ihren Lippen. Ihr angestrengtes Keuchen soll wohl Mund-zu-Mund-Beatmung sein, fühlt sich aber eher wie ein glitschiger, feuchter Kuss an. Prustend setze ich mich auf und stoße sie von mir.
»Ich hab’s geschafft! Ich habe dich ins Leben zurückgeholt!« Seraphima schließt mich weinend in die Arme. »Oh Oliver. Ich weiß nicht, ob hier das Leben die Kunst imitiert oder die Kunst das Leben … Ich bin einfach so froh, dass du und ich nun die Chance haben, glücklich und zufrieden zu leben bis ans Ende unserer Tage.«
Ich stöhne. »Wo ist das Einhorn …?«
»Weit, weit weg, mein Liebster. Warum?«
»Ich hatte gehofft, es könnte mich noch mal durchbohren.«
Frump schleicht mit eingezogenem Schwanz herbei. Tut mir leid , forme ich lautlos mit den Lippen.
Seraphima lässt sich neben mir auf den Boden plumpsen und fängt an, den Rand ihres Rocks für Bandagen in Streifen zu reißen. »Wir müssen dich zu Orville bringen, damit er dir einen Heilverband macht …«
Das Letzte, was ich mir wünsche, ist, dass Seraphima hierbleibt und die Krankenschwester spielt – oder, noch schlimmer, eine Wunde verarztet, die ich gar nicht habe. Ich überlege fieberhaft, dann runzle ich die Stirn und wende den Kopf abrupt nach links. »Hast du das gehört?«
Frump bellt.
»Genau, alter Junge. Klang wirklich ganz nach Rapscullio …« Ich weiß, dass das Seraphima in Panik versetzen wird. Für jemanden,
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