Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
später kamen wir mal auf diese Pendlerzeit zu sprechen. Und mein Papa sagte: »Natürlich hab ich gemerkt, dass da was war mit dir.«
Die Trennung tat weh
Heimweh. Selbstverständlich hatte ich in meiner Klingenthaler Zeit Heimweh. Ist das ein Wunder, wenn ein Zwölfjähriger die ganze Woche über von seinen Eltern, von seiner Schwester getrennt ist und sich plötzlich in einer ganz neuen Trainingsgruppe zurechtfinden muss? Heimweh tut weh. Aber mein Heimweh war damals nicht wirklich ein Thema. Für meinen Papa nicht, für meine Mama nicht. Sie wollten wohl nicht, dass ich mich als kleiner Junge fühlte. Und für mich nicht, weil ich ein großer Junge sein wollte. Heimweh passte da nicht ins Bild. Außerdem war ich ja auch stolz, dass ich aus Hunderten von Sporttalenten ausgewählt wurde und jetzt auf dieser Eliteschule in Klingenthal aufgenommen war.
Meistens holte mich Uwe Schuricht mit seinem Trabi montags ganz früh ab, schon um halb sechs. Dann war für mich die Trennung von den Eltern nicht ganz so schlimm.
Herr Schuricht wohnte wie wir in Johanngeorgenstadt. Er arbeitete als einer der Trainer in der Kinder- und Jugendsportschule, wo er selbst einmal KJS-Schüler war. Weil bei ihm der große sportliche Erfolg als Nordischer Kombinierer ausblieb, dafür aber sein Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig sehr erfolgreich war, wurde er nach seiner Armeezeit Übungsleiter. Jetzt hatte er gerade seine erste Trainingsgruppe übernommen.
Ich war einer von seinen sieben neuen Talenten, Jahrgang 1974. Wir kamen aus dem Vogtland, der Lausitz oder, wie ich, aus dem Erzgebirge. Die Klingenthaler KJS war darauf spezialisiert, hoffnungsvollen Nachwuchs für die Nordische Kombination, die aus Skilanglauf und Skispringen besteht, auszubilden.
Ernüchterndes Wiedersehen: vor der Kinder- und Jugendsportschule in Klingenthal – 24 Jahre nach der Wende
Das Skisprung-Mekka Klingenthal
Klingenthal im Vogtland – das war jetzt meine Welt. Die Kleinstadt mit damals rund 13.000 Einwohnern hatte durchaus einen klingenden Namen. Erstens als Stadt des Musikinstrumentenbaus, für den Weltmarkt wurden Geigen und Akkordeons der Marke Weltmeister produziert. Aber vor allem machten Skispringer das kleine Klingenthal international bekannt. Der Skisport hatte hier eine lange Tradition. Alles begann, als sich der Lehrer Erwin Beck im Jahr 1886 nach norwegischem Vorbild ein Paar Skier bauen ließ und den weißen Sport in seiner Heimat populär machte. Die erste Sprungschanze wurde schon 1913 im Dürenbachtal gebaut.
Natürlich kannte ich Klingenthal aus dem Fernsehen, vor allem die Aschbergschanze, die von den Einheimischen und Athleten liebevoll »Asch« genannt wurde. Und ein paar Namen erfolgreicher Klingenthaler waren mir schon als Kind geläufig: Harry Glaß, der 1956 in Cortina d’Ampezzo die allererste Medaille für die DDR gewonnen hatte. Oder die Skiflieger Heinz Wosipiwo und Matthias Buse, der 1978 Weltmeister wurde. Oder Manfred Deckert, der Vierschanzentournee-Sieger von 1982, Klaus Ostwald, der Skiflug-Weltmeister 1983. Und natürlich Helmut Recknagel, der für Klingenthal 1960 in Squaw Valley startete und die erste olympische Goldmedaille holte. Die Klingenthaler Begeisterung fürs Skispringen war riesig. Als 1959 die Große Aschbergschanze eingeweiht wurde, pilgerten über 70.000 Menschen ins enge Steinbachtal, um die Helden der Lüfte zu bewundern.
Die KJS – Kaderschmieden des DDR-Sports
Die KJS Klingenthal entstand 1961. Die Geschichte der DDR-Errungenschaft »Kinder- und Jugendsportschulen« (KJS) hatte allerdings schon in den 1950er-Jahren begonnen. Kurz nach der Gründung der DDR wusste die politische Führung um die nützliche Wechselwirkung zwischen Leistungssport und Kindersport: Je früher und systematischer Kinder an den Leistungssport herangeführt wurden, desto besser. Die Sowjetunion hatte auf diesem Gebiet bereits 20 Jahre lang Erfahrung und hatte wissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt. Und auch Walter Ulbricht erkannte, dass in »den Jungen das Reservoir für künftiges Olympiagold« steckte.
In den von ihm angeregten ersten Kinder- und Jugendsportschulen (in Berlin, Leipzig, Brandenburg und Halberstadt) wurde das Fach Körpererziehung zwar ein Schwerpunkt, aber nur einer von mehreren. Außerdem waren die KJS offen für alle sportlich begabten Kinder ab zwölf Jahren. In einem Dossier beklagte sich einmal ein Funktionär: »Da saßen Milchtrinker neben leistungssportlichen
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