Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
den Asphalt knallte. Papa wurde alarmiert, er brachte mich in die Poliklinik. Da blieb ich dann zwei Tage. Als Papa mich abholte, sagte ich ihm kleinlaut: »Aber die Betten hab ich gemacht.« Blöder Unfall.
Erste Sprünge: Auf dieser Schülerschanze in Johanngeorgenstadt hat für mich 1980 alles begonnen.
Unsere Wohnung in der Platte
Mein Heimatort hat eine lange Geschichte. Vor fast 370 Jahren hatten etwa hundert protestantische Familien den Südhang des Fastenbergs besiedelt, weil hier Wind und Wetter weniger wüteten. Sie waren aus dem katholischen Böhmen geflohen, Sachsens Kurfürst Johann Georg I. hatte ihnen Schutzrecht gewährt. Besonders der Bergbau machte Johanngeorgenstadt groß. Zur Blütezeit, Anfang der 1950er-Jahre, lebten hier mal an die 45.000 Menschen. Meine Eltern erzählen manchmal von den verwinkelten Gassen mit vielen Geschäften und schmucken Häusern. Doch in den 50er-Jahren wurde die historische Altstadt dem Erdboden gleichgemacht und die Menschen wurden umgesiedelt – in die Neustadt, 200 Meter über dem Tal, auf einem Hochplateau. Dort wurden vor allem Plattenbauten hochgezogen.
Wir wohnten, als ich acht Jahre alt war, auch in so einer Platte. In der Paul-Lehnhardt-Straße 29, dritte Etage. Mein Vater musste vorher sein handwerkliches Geschick einbringen und mindestens hundert Arbeitsstunden mithelfen. Unsere Wohnung war in den Wintermonaten total überhitzt, weil es für die Fernheizungsrohre keine Isolation gab und sich die Heizung auch nicht abdrehen ließ. Morgens standen wir manchmal benommen auf, mussten erst kalt duschen, um zu uns zu kommen.
Der Uran-Abbau zerstörte unsere Altstadt
Warum die alten Häuser in Johanngeorgenstadt weichen mussten? Wegen drohender Bodensenkungen und um den Bergbau unter Tage nicht zu gefährden. Tatsächlich wurde auf Druck der Sowjetunion von der hier ansässigen Wismut AG, einst viertgrößter Uran-Produzent der Welt, rücksichtslos der wertvolle Rohstoff abgebaut – für die sowjetische Atombombe. Die Wismut AG war so eine Art »Staat im Staate DDR«, heißt es in einer Chronik. Nach der Wende wurde das mächtige Unternehmen abgewickelt.
Symbole des Niedergangs
Es gab damals mehrere Fabriken im Ort, die im großen Stil Möbel, Brot, Bestecke, Lederhandschuhe oder Kinderbekleidung produzierten. Allein bei der Firma »Jokimo« (Johanngeorgenstädter Kindermoden) nähten mal tausend Frauen für Quelle und Woolworth. Nach der Wende mussten alle dichtmachen. Konkurs.
Jahr um Jahr verließen mehr und mehr Menschen Johanngeorgenstadt, sie zogen der Arbeit hinterher, nach Dresden, Nürnberg oder noch weiter weg. Keine Stadt im Erzgebirge hat durch den Strukturwandel in den vergangenen Jahrzehnten so viele Einwohner verloren wie Johanngeorgenstadt.
Siegerehrung in Johanngeorgenstadt: Bei diesem Schülerwettkampf (1985) wurde ich (ganz links) nur Sechster. Der Blick zu den Besseren tat weh.
Als ich hier lebte, waren wir über 10.000 Einwohner. Nach der Wende ist fast jeder Zweite (48,8 Prozent) abgewandert. Die Liste sächsischer Kommunen mit dem größten Einwohnerschwund führt Johanngeorgenstadt an. Heute sind es unter 4500 Einwohner, meist Alte. Selbst die Neustadt wird unaufhaltsam zurückgebaut, von außen nach innen, Häuserblock um Häuserblock. Wenn man auf die Homepage der Stadt geht, und unter »Wirtschaft/Infrastruktur« schaut, findet man als ersten Eintrag: »Bestattungsinstitut Neidhardt«.
Als unfreiwilliges Symbol für den Niedergang taugt leider auch die imposante Erzgebirgsschanze, einst ein Wahrzeichen und Stolz des Wintersportvereins 08 Johanngeorgenstadt. Sie bekam vor 13 Jahren keinen TÜV mehr und wird vom Zahn der Zeit immer mehr zernagt. Die Schanze zu sanieren oder zu sprengen würde Millionen kosten. Dafür hat die hoch verschuldete Kommune kein Geld. So steht sie als trauriges Relikt einer großen Vergangenheit in der Landschaft.
Wie oft stand ich als kleiner Junge vor diesem Giganten, schaute mit großen Augen hinauf zum 42 Meter hohen Anlaufturm und träumte davon, hier einmal einen Schanzenrekord aufzustellen.
Damals war sie für mich noch ein paar Nummern zu groß. Und jetzt ist es längst zu spät.
Daheim bei meinem ersten Trainer Erich Hilbig in Johanngeorgenstadt. Wir blättern in alten Erinnerungen. Vieles habe ich schon längst vergessen.
»Hast du uns vergessen?«
Erich Hilbig lächelte, als wir sein einsam gelegenes Haus, kaum 100 Meter von der tschechischen Grenze entfernt, endlich gefunden
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