Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
vorne fixiert und hinten mit einem Seil festgehalten. Heute übernimmt die Fixierung ein gebogener Metallstab. Jedenfalls ist mir in der Luft das Band hinten am Schuh gerissen. Puh, dadurch habe ich in der Luft die Kontrolle verloren, mich drehte es seitlich vornüber und ich knallte auf den Hang. Gehirnerschütterung. Im Grunde ging dieser Sturz sogar noch glimpflich aus. Aber statt weiter trainieren zu können, musste ich an meinem ersten Skiflug-Wochenende das Bett hüten.
Erfolg bei der Königsdisziplin der Skispringer
Drei Jahre nach meiner Bruchlandung auf der Oberstdorfer Skiflugschanze hatte ich immer noch Schmetterlinge im Bauch. Ein komisches Gefühl zwischen Lust und übergroßem Respekt. Vorsichtig tastete ich mich an den größten Wettbewerb des Jahres heran. Die Skiflug-Weltmeisterschaft. Wieder in Oberstdorf. Im Training schaffte ich 167 Meter und war erst einmal beruhigt: »Ich kann’s doch. Die Schanze tut mir nichts.« Ich traute mich sogar, auf Risiko zu gehen, kontrolliertes Risiko. Und im nächsten Trainingssprung konnte ich sogar noch zulegen: 178 Meter. Und dann steigerte ich mich noch auf stolze 191 Meter. Am ersten Wettbewerbstag ging ich tatsächlich in Führung – vor dem Japaner Kazuyoshi Funaki und dem Norweger Kristian Brenden.
Am zweiten Tag steigerte ich mich noch mal, flog 199,5 Meter und 203 Meter weit – und wurde mit diesen Leistungen hinter Kazuyoshi Funaki Zweiter.
Was für eine riesige Überraschung und überwältigende Freude: Ich hatte eine Silbermedaille gewonnen – und dann auch noch bei der Königsdisziplin der Skispringer: beim Skifliegen.
»Skifliegen ist, als wenn du aus dem zehnten Stock springst und froh bist, dass du überlebt hast.« Martin Höllwarth, österreichischer Skispringer
Skifliegen erzeugt ungeheuren Stress
Vor dem Wettbewerb hatte der deutsche Teamarzt Dr. Ernst Jakob den Adrenalinspiegel von Martin Schmitt und mir gemessen. Was er ermittelte, verblüffte uns alle: Die Stresshormone waren ums Vierfache erhöht. So hohe Werte werden normalerweise nur bei Menschen gemessen, die Todesangst haben. Kein Wunder, dass der heutige Bundestrainer Werner Schuster Skifliegen mit einem »Tanz auf der Rasierklinge« vergleicht.
Skiflieger sollen psychisch so stark unter Druck stehen wie Formel-1-Piloten, die über einen Hochgeschwindigkeitskurs rasen. Das Unterbewusstsein könne die Bilder, die Eindrücke, die Flut optischer Reize kaum mehr verarbeiten, das Nervensystem würde überstrapaziert – dies haben Forscher der Universität Innsbruck festgestellt.
Die Tortur für Körper und Geist beginnt bereits zwei Tage früher. Weil die Anstrengungen sogar zu einer Störung der koordinativen Fähigkeiten führen, bewegen wir Schanzenpiloten uns »auf einem relativ schmalen Grat«, warnte Ludwig Geiger, leitender Arzt am Olympiastützpunkt Berchtesgaden. Denn schon 48 Stunden vor dem Wettkampf könne der Hormonhaushalt in einen Ausnahmezustand geraten. Die Nebennieren produzierten so viel Adrenalin, dass die Normwert-Obergrenze bis um das Vierfache überschritten sein könne – wie bei Menschen in Todesangst.
Der Stress beim Skifliegen, stellte Geiger fest, »ist höher als bei jedem anderen Sport«.
Skifliegen fordert alles von dir, es laugt dich total aus, du kannst kaum mehr regenerieren. Manchmal verliert ein Athlet drei bis vier Pfund während der drei Tage an einem Skiflug-Wochenende. Nach einem Skifliegen wollte ich nichts mehr sehen, nicht mehr sprechen. Abends fiel ich immer völlig kaputt ins Bett.
Und trotzdem: Das Glücksgefühl beim Skifliegen ist stärker als die Angst vor möglichen Verletzungen. Das Wettkampfgefühl ist einfach so geil, dass du dich immer selbst übertrumpfen und der Athlet sein willst, der am weitesten geflogen ist.
Skifliegen ist die ultimative Mutprobe
Skispringen ist großartig, aber Skifliegen war immer mein absolutes Highlight. Auch weil es in jeder Saison nur drei Wettkämpfe gibt. Vor allem aber, weil Skifliegen ein Sport im Grenzbereich ist. Skifliegen, das ist die ultimative Mutprobe.
Skifliegen ist die verschärfte Version von Skispringen. Beim Skifliegen ist die Schanze höher, die Anlaufspur länger, der Luftwiderstand größer und die Aerodynamik wichtiger, alles ist gefährlicher. Die physikalischen Kräfte, die auf dich wirken, sind so enorm, dass es dir fast die Schuhe auszieht. Aber genau das macht ja den ungeheuren Reiz des Skifliegens aus – diese Mischung aus Mut und Risiko und Gefahr.
Du wirfst
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