Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
dich in die steile Anlaufspur, rast runter auf den Schanzentisch zu und katapultierst dich dann ins Nichts. Mit etwa 105 Kilometern pro Stunde. Du hörst die Lüfte pfeifen, nein, eigentlich realisierst du bei dieser Geschwindigkeit nichts mehr. Du spürst den Luftdruck, den Wind in deinem Gesicht und die physikalischen Kräfte, die dem Körper zusetzen.
Aber du denkst nichts mehr. Du rufst nur deine Handlungsmuster ab, diese tausendmal einstudierten Automatismen, die in deinem Kopf gespeichert sind.
Du bringst dein Flugsystem, also Körper und Skier, in eine aerodynamische Position. Du willst den perfekten Flug. Schließlich signalisieren die Instinkte: »Achtung bei der Landung! Telemark setzen.«
»Bei der Landung denkst du, es treibt dir die Kniescheibe aus der Hose, und nachher schwitzt du und zitterst am ganzen Körper.« So hat mal ein Teamkollege seine körperlichen Erfahrungen beschrieben. Es ist absolut extrem, du glaubst fast, dass du doch fliegen könntest wie ein Vogel.
Skifliegen ist eine völlig andere Liga als Skispringen. Vom Gefühl her ist der Unterschied etwa so, als würdest du mit dem Auto nicht mehr 100 Sachen fahren, sondern 200. Du spürt deutlich mehr Druck, weil du viel schneller anfährst – für mich ein absolut geniales Gefühl. Beim Skispringen sitzt du quasi in einem schnellen Auto, beim Skifliegen aber in einer richtigen Rakete.
Nach dem Absprung bist du gefühlte zwei Tage unterwegs, ehe du wieder landest. Dein Gefühl betrügt dich natürlich, aber du empfindest den Unterschied zwischen Skispringen und Skifliegen als gewaltigen Quantensprung, diese 3,4 Sekunden längere Luftfahrt kommen dir wie eine Ewigkeit vor. Wie in Trance schwebst du in einer anderen Dimension. Du hast teilweise einen Luftstand von 10 Metern, schwebst also 10 Meter hoch in der Luft. Du erlebst überwältigende Momente – so ganz ohne Motor oder Düsenantrieb durch die Lüfte zu segeln. Das ist ein absolut geniales Gefühl – wenn es gut geht.
Ich hätte diese unglaublich intensiven Momente sehr gerne sehr viel öfter erlebt als in den zwei Wettbewerben mit jeweils neun Flügen, die es in einer Saison gab. Und alle zwei Jahre noch die Skiflug-Weltmeisterschaft.
Skifliegen ist »Skispringen der Größe XXL«, hat Martin Schmitt einmal treffend gesagt. Und mein Mannschaftskollege Christof Duffner, sonst einer von der ganz ruhigen Sorte, schwärmte: »Beim Skifliegen werden Männer gemacht.« Und später ergänzte Duffi, der inzwischen Vater von Drillingen ist, seine Einschätzung noch mit einem sehr deutlichen Vergleich: »Skifliegen – das ist ein geiles Gefühl, fast wie bei einem Orgasmus.«
Erlösung: Endlich bin ich in der Hightech-Sportart Skifliegen ganz oben.
Die Geschichte des Skifliegens
Im Jahr 1931 begann der slowenische Ingenieur Stanko Bloudek mit den Planungen einer Schanze, die weite Sprünge zulassen sollte. Im ersten Wettkampf stellte der Norweger Sigmund Ruud mit 87,5 Metern einen neuen Weltrekord auf. Nach dem eigentlichen Springen startete sein Bruder Birger noch einmal – ohne verkürzten Anlauf – und stand seinen Sprung bei 92 Metern. Die Organisatoren waren höchst erfreut über die Begeisterung der Zuschauer und das große Medienecho und wollten die Chance nutzen, die Bekanntheit von Planica, diesem »Tal der Skischanzen« im Nordwesten Sloweniens, zu mehren, und bauten die Schanze in den kommenden Jahren immer weiter aus.
Im März 1936 übersprang Sepp Bradl aus Bischofshofen als erster Mensch die 100-Meter-Marke. »Das war kein Skispringen mehr«, entfuhr es Bloudek damals, »das war Skifliegen.« Inzwischen liegt der Weltrekord bei 246,5 Metern, aufgestellt vom Norweger Johan Remen Evensen, der sich als 16-Jähriger nach einem schweren Sturz eine lebensbedrohliche Verletzung an der Niere zugezogen hatte und eine Zeit lang sogar im Rollstuhl saß. Evensens Rekordsprung gelang am 11. Februar 2011 auf dem »Monster-Bakken« in Vikersund, der zuvor noch einmal mit Millionenaufwand vergrößert worden war.
»Wo weht denn hier ein Wind?«
Die Weltmeisterschaft im Februar 2000 war ein verrückter Wettbewerb, weil der Wind total verrücktspielte. Siebzehn Mal musste der Wettkampf (vier Wertungsdurchgänge) verschoben, unterbrochen, abgebrochen, neu angesetzt werden.
Das fing schon am Donnerstag beim Training an. Zu starker Wind. Absage. Beim Freitagstraining konnte gesprungen werden. In der Nacht zum Samstag frischte der Wind wieder auf. Dennoch beschloss die Jury, den
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