Mein irisches Tagebuch
Bücher liegen und ganze Batterien von Flaschen aufgestellt sind, hantiert ein älterer, verschmitzt wirkender Mann herum - markantes Gesicht, grauer Schopf, buntes Hemd unter einem leichten Jackett. »Joe«, klärt Ralf Sotschek mich auf, »der Zeremonienmeister.« Der schnickt uns, auf die unnachahm-bare irische Weise, mit dem Kopf seinen Gruß zu.
Eine Stunde später ist der rauchgeschwängerte Raum gefüllt von etwa achtzig Männern und Frauen, deren Eintrittsgeld, zwei Pfund, den Entlassenen übergeben werden soll. Einstweilen reden sie alle durcheinander, ohne sich um die Vorbereitungen da vorn zu kümmern.
Der Ernst der Sache wird in einen Spaß gekleidet. Es geht heute abend um ein Quiz, bei dem sich je vier Leute an einem Tisch als Rateteam zusammenfinden und die Fragen auf einem Zettel beantworten, der vorn abgegeben und dort bewertet wird. Die einzelnen Teams haben Nummern, und ihre Punkte werden nach jedem Rategang an die Tafel geschrieben. Es gibt zehn Runden mit je sechs Fragen. Sieger ist, wer die meisten Fragen richtig beantwortet hat.
Die Vorbereitungen am Tisch vorn sind in vollem Gang, aber niemand scheint das zu beachten. Die Stimmung ist locker, auf merkwürdige Weise disziplinlos und doch auch wieder aufmerksam. Als Joe ins Mikrofon ruft: »Das kann vielleicht der langweiligste Abend eures Lebens werden«, kriegt er vollen Applaus. Er hat das Jackett ausgezogen, rückt die Brille herunter und macht ein grimmiges Gesicht.
Erste Frage: Wer hat den letzten Euro-Gesangswettbewerb gewonnen? Proteste, Gelächter (nach irischen Siegen war es diesmal zwar Norwegen, aber die Hauptperson der Band, eine Violinistin, war Irin). Was ist die älteste Droge? Lachsalven aus dem sachkundigen Publikum: Alkohol - jedermann weiß das. Dann wird es politischer. In welchem Wahlkreis findet morgen eine Nachwahl zum Londoner Unterhaus statt? Ralf souffliert mir die Antwort: »In North Down, Nordirland.« Mir wird schlagartig so etwas wie eine politische Ortung klar: Für diese Versammlung hier gibt es nur ein Irland - das wiedervereinigte.
Vierte Frage: Durch welchen Song ist die portugiesische Diktatur gestürzt worden? Da steht an Tisch 20 eine Frau auf und beginnt, ein Lied in portugiesischer Sprache zu singen, eine Exilantin, die mit einem Iren verheiratet ist - »Grandola villa Morena«. Der Ire stellt sich neben sie und singt mit. Danach erklärt die Portugiesin, das Lied habe keinerlei Anteil an dem Sturz der Diktatur Gaetanos gehabt, »aber schön ist es doch«. Lachsalven und die Forderung, ihr den Preis, einen blauen Regenschirm, zuzuerkennen, obwohl das Rateteam 20 nicht an erster Stelle steht. Plebiszitärer Zuspruch der Versammelten.
Ich bin hier, ganz unverkennbar, unter irischen Linken. Aber ich habe ein anderes Gefühl als unter deutschen Linken. Ich nehme mal vorweg, was ich im Lauf des Abends und später erfahre.
Das hier sind Leute, die mit der katholischen Bürgerrechtsbewegung in Nordirland sympathisieren, in Selbsthilfeprojekten arbeiten und Sozialhilfeempfängern Rechtsberatung geben. Für mich wird etwas altmodisch Linkes sichtbar, schwebt etwas selbstverständlich Proletarisches mit, gibt es ein ungebrochenes Bekenntnis zum Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Mir scheint, dies ist eine Linke mit einem freien Gewissen, ohne die Belastungen deutscher Linker durch ihre Allianz mit der gewalttätigen »Muttermacht« Sowjetunion. Hier herrscht eine völlig andere Atmosphäre, ist ein tragischer Sozialhintergrund durchwürzt von einem unverwüstlichen Humor, wo auch notorische Guinness-Trinker jeden Bierernst verweigern. Ich spüre keine Ideologie.
Je weiter die Stunde vorrückt, desto listiger und feuriger wird Joe auf seiner Empore. Da korrespondiert etwas zwischen dem silberhaarigen Zeremonienmeister im bunten Hemd und diesem Auditorium von dynamischer Disziplinlosigkeit und sprungbereiter Lachfähigkeit, die dennoch keine Sekunde vergißt, um was es hier jenseits des Quizspaßes geht. Da kommt kein Funken Flachheit, keine Spur von Oberflächlichkeit auf. Ich kann mich nicht erinnern, in Deutschland unter Linken je eine Runde von so unverstellter Fröhlichkeit vor ernstem Hintergrund erlebt zu haben, wie hier in Dublins Parnell Square 36. Und ich entdecke noch eine Nuancierung.
Während der Antiklerikalismus sozusagen eingeboren ist, während mit vollen Segeln gegen Irlands an der Macht befindliche Politikerklasse vom Leder gezogen wird und Ministerpräsident John Bruton mehr als
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