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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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einmal am Pranger steht, entdecke ich eine fast verschämte Zuneigung zu Mary Robinson, der Präsidentin, es fällt, wenn sie erwähnt wird, kein Wort gegen sie.
    Mitternacht geht vorbei, doch niemand denkt an Aufbruch.
    Ich habe nicht gewußt, wie lange eine Elefantenkuh schwangergeht oder bei welchen drei Sportarten sich rückwärts bewegt wird. Aber gegen ein Uhr früh wird das Team von Tisch Nr. 3 zum Sieger erklärt, und der Preis, drei Flaschen Whiskey, von Larry O’Leary in Empfang genommen. Dieses Unikum war mir schon den ganzen Abend aufgefallen.
    Larry O’Leary ist ein Mann, der aussieht wie die eigene Karikatur. Ergeht durch den Raum wie ein stelzbeiniger Vogel, den großen Kopf mit der langen Nase immer irgendwie gesenkt, ein schmales Lächeln um die Augen und nie ohne Mütze. Als er zu mir kommt, summt er die Melodie des KZ-Liedes von den »Moorsoldaten«,gibt mir seine Karte und sagt: »Ruf mich an, ich bin halb besoffen, da kommt kein vernünftiges Wort raus. Ich gehe.« Das macht Larry O’Leary wahr, aber nur bis zum Nebentisch. Da läßt er sich nieder, greift nach einem vollen Glas, das nicht er bestellt hat, blickt fröhlich schwankend in die Runde und trollt sich bald auch von dort. Gegen zwei Uhr hat er den letzten Tisch vor dem Ausgang erreicht.
    Man kennt ihn nur im immer gleichen Habitus. Er trägt Schnurrbart, blaues Hemd, Lederjacke, schwarze Hose und schwarze Schuhe - denn Larry O’Leary ist der Darsteller des legendären irischen Arbeiter- und Gewerkschaftsführers James Larkin (Big Jim), sozusagen seine Verkörperung vom Dienst. Wann immer es gilt, für irische und ausländische Filmproduktionen oder Theateraufführungen den Mann zu mimen, der gesagt hat: »Das Große scheint groß, weil wir auf den Knien liegen, laßt uns aufstehen« und von dem gesagt worden ist: »Er sprach zu den Arbeitern, wie nur Jim Larkin sprechen konnte« - Larry O’Leary, längst in seine Haut geschlüpft, ist stets zur Stelle. Und so ist denn unter all den Denkmalen, Standbildern und Monumenten auf dem Mittelstreifen der O’Connell Street für mich die dramatischste Figur die des »Jimmy« Larkin - die Arme ekstatisch ausgestreckt, die ganze Gestalt leidenschaftlich verrenkt, bietet er den Anblick eines Menschen von höchster Selbstentäußerung im Dienst für andere.
    Er war nicht der einzige Heros, Irland hat deren viele und mit den unterschiedlichsten Charakteren hervorgebracht. Und doch weisen ihre Biographien häufig etwas Gemeinsames auf: die Grenzen zwischen Heroismus und Kopflosigkeit, zwischen Tragik und Lächerlichkeit, zwischen Opfermut und Anarchie sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt.
     

Eine schreckliche Schönheit kam zur Welt
     
    Am nördlichen Ende der O’Connell Street ragt eine Statue auf, die in ihrer gesammelten Reserve quasi das Gegenbild des proletarischen Larkin sein könnte: das linke Bein elegant vorgestellt, die rechte Hand waagerecht ausgestreckt, die linke auf einen Tisch gestützt, Mantel, Weste und Hose aus vornehmem Tuch, ganz Patrizier - Charles Stewart Parnell (1846-1891).
    Ich lese: »Niemand hat das Recht, einer Nation auf ihrem Marsch eine Grenze zu setzen. Niemand hat das Recht, zu seinem Land zu sagen: Bis hierher sollst du gehen und nicht weiter.«
    Parnell war die große charismatische Figur der irischen Freiheitsbewegung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der Vorkämpfer für home rule (nationale Selbstverwaltung) und Initiator der irischen Landreform - so etwas wie Irlands ungekrönter König. 1875 kommt er als Abgeordneter der Irish Parliamentary Party ins Unterhaus, wird rasch zu ihrem Führer, brilliert als Redner und glänzender Taktiker und zieht nach der Wahl von 1886 mit 96 Anhängern der home rule in Westminster ein. Er scheitert jedoch mit seinen Plänen - am Veto des britischen Oberhauses und an einer Liebesaffäre mit einer verheirateten Frau. Vor allem diese Liaison entzieht Parnell die Unterstützung seiner katholischen Anhänger.
    Bis dahin hatte der Protestant Charles Stewart Parnell Reformen und Nachdenken über Reformen in Bewegung gesetzt, die irische Sache vehement in das Bewußtsein der englischen Öffentlichkeit befördert und dabei katholische Bundesgenossen zur Seite gehabt. Gleichzeitig aber schuf er den Boden für nationalistische Forderungen, die weit über homerule und Landreform hinausgingen.
    Im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts radikalisiert sich die irische Szene merklich. Auf dem Programm zahlreicher

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