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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Umkehrschluß gezogen.
    Soll damit etwa unterschlagen werden, daß es hier, wie überall, Räuber, Diebe, Mörder, Sittlichkeitsverbrecher, Politgangster, uneinsichtige Priester und eine durchaus menschenfeindliche Konfessionalität gibt? Tue ich das? Natürlich nicht.
    Aber bei aller Kritik, ohne Scheuklappen und mit hochgeschobenem Visier - es bleibt wahrlich genug, um dieses Irland zu preisen, von ihm hingerissen zu sein, es zu bestaunen und zu lieben!
    Und daran hat sich gar nichts geändert, heute wie damals, als Heinrich Böll sein »Irisches Tagebuch« schrieb.
     

Dublin
     

Von Nixen, St. Stephen’s green und street characters
     
    O’Connell Street, von der gleichnamigen Brücke aus gesehen, City, Zentrum der Metropole.
    Vorn die von Taubenkot dauerbeschmutzte Kolossalstatue des »Befreiers«, zu beiden Seiten des denkmalbesetzten und abgasverräucherten Mittelteils der Allee der im Gegenverkehr tosende Hauptstadtverkehr, eine 24stündige rush hour, und an der Anna Livia Plurabelle, der mißratenen Symbolfigur des Liffeyflusses, arbeitet heute wieder Margret Doyle Dünne. Die zierliche alte Dame macht trippelnde Bewegungen, streckt die Arme aus, gibt Laute von sich, verändert dauernd ihren Kurs und ihre Miene, freudig oder trauernd, traumtänzelnd und ohne Blickkontakt mit Passanten, als sei sie allein auf der Welt. Ein Halstuch um, das schüttere Grauhaar im Wind, setzt sie eine aussterbende Tradition fort, Ausdrucksform öffentlicher Darbietung aus der Vorkinozeit, jeder Bewegungsphantasie freien Lauf lassend, kunstvoll und längst an den Rand gedrängt von der kinematographischen und elektronischen Übermacht unserer Zeit - Margret Doyle Dünne ist eine der letzten street characters.
    Auf der kupferoxidierten Liffey Maid, diesem Nixengeschöpf mit unproportioniert langen Beinen und strähnigem Haar, turnt ein kleines Mädchen in winzigen Jeans und dunklen Locken, vorsichtig geführt vom Vater und mit einer Puppe in der Hand. Auf der steinernen Brüstung junge Mädchen und junge Männer, Eis schleckend. Flatternde Tauben, wohin man guckt, und Möwen, hoch über Dublins breiter Prachtavenue von der nahen See kündend. Wie die saubere Brise, von der dann und wann die Abgashölle überraschend zerteilt wird.
    Hinüber zur Henry Street - Fußgängerzone, Ladenpassagen, Cafés, lichtdurchflutete Arkaden, die Shopping Mall. Ein wogendes Menschenmeer, als sei hier die ganze Nation kaufwütig versammelt, nirgends habe ich so viele Einkaufstaschen auf einmal gesehen.
    Rechts ab, in die Moore Street, zum zentralen Gemüse- und Blumenmarkt. Neben Dschungeln von Schnittblumen und Pflanzen massenhaft künstliche Buketts von augenstechendem Blau und schmerzendem Rot, Farben, deren Perversion sich jeder Beschreibung entzieht, die aber offenbar äußerst beliebt sind. Zwischen Bergen von Kohl, Zwiebeln, Äpfeln und Stapeln leerer Kisten haben sich eine hochrädrige Droschke und ein mit Wippfedern dramatisch dekorierter Gaul verirrt, störend, wegversperrend und allseits bejubelt. Von überall her irische Weisen, dazu Gestalten wie aus den Büchern Edgar Allen Poes, und das am hellichten Tag.
    Zwei kleine Jungen haben sich unter einen Stand verkrochen und werden von der Besitzerin verjagt. Vor einer Bäckerei sitzt eine Frau, krault sich im Haar und preist monoton die Ware an, vornehmlich, wenn niemand vorbeikommt. Der Wind treibt Plastiktüten vor sich her und abgeschälte Zwiebelhaut. Zwischen den Ständen vergammeln zerquetschte Orangen, im Rinnstein Reste von Blumenstengeln, und in meine Nase zieht der durchdringende Geruch von Fisch. Die schwarzen Behälter für Abfall - litter - quellen über, hier und in der Henry Street. Dort bieten sehnige Jünglinge lauthals Feuerzeuge an, Tabak, Batterien. Ich warte, doch es kauft niemand.
    Weiter zur Grafton Street. Gegenüber dem unvermeidlichen Marks & Spencer - Bewley’s Oriental Café: Zuckerwaren, Rosinen, Gebäck, alle süßen Herrlichkeiten der Welt. Zu Recht berühmt, aber drinnen, wie immer, zu heiß, zu stickig. Dafür duftet es aus Ann’s - »Your local baker« - himmlisch nach frischem Brot. Im Book Shop daneben Fotos der alten Grafton Street, ohne den Glamour der modernen Verkaufswelt, vor Erfindung des Motors.
    Disput zwischen einer armselig gekleideten Frau und einem Polizisten. Der war herbeigerufen worden von einem Juwelier, vor dessen Geschäft sie gebettelt hatte. Nun packt die Frau ihre Sachen und schreit und schimpft in den Laden hinein, während

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