Mein irisches Tagebuch
aufreckt, streng nordisch geformt und europäisch, wie der Nazarener bestimmt nie ausgesehen hat. Betende Frauenstatuen, Wachsblumen, wohin ich sehe, teils unter freiem Himmel, teils unter Plastik, ausgebleicht, aber wenigstens das Zeichen besuchter Gräber.
Weiter hinten in dieser Megalopolis der Toten verliert sich der Eindruck von Größe und Pflege, verwandelt sich der Riesenfriedhof von Glasnevin in einen verwilderten Leichenacker, so verwahrlost, als hätte hier seit hundert Jahren kein Begräbnis stattgefunden. Bis ich mitten in dem unübersehbaren Feld abgewitterter, umgefallener, geborstener Steine das Grab einer Frau entdecke, die am 9. Dezember 1993 gestorben ist.
Der Friedhof von Glesnevin spiegelt 150 Jahre irischer Geschichte wider.
Nach den Penal Laws des 18. Jahrhunderts, dem Höhepunkt britischer Kolonialpolitik auf der Insel, gewann zu Anfang des 19. die katholische Emanzipation, wenngleich in Etappen, sichtlich an Boden.
Bis dahin war Katholiken nicht nur das Wahlrecht, sondern auch jedes ordentliche Begräbnis .vorenthalten worden. Noch 1823 konnte der protestantische Erzbischof von Dublin, Dr. Magee, dem katholischen Erzdiakon Blake während einer Beerdigung die Grabrede verbieten, was eine Woge der Empörung auslöste. Auf ihrem Kamm gewann die katholische Emanzipation so beträchtlich an Boden, daß Daniel O’Connells gewaltlos operierende Organisation, die Catholic Association, 1828 in Kilmainham Land für einen Friedhof - den Golden Bridge Cemetery - kaufen konnte, ein bis dahin beispielloses Ereignis. Unglücklicherweise grenzte das Gebiet aber an die Richmond-Kaserne, deren Befehlshabern es gelang, wenn auch erst nach dreißig Jahren, den Golden-Bridge-Friedhof schließen zu lassen.
Inzwischen aber war, nicht zuletzt durch die Pioniertat von Kilmainham, der Glesnevin Cemetery für Katholiken freigegeben worden (was die damals längst verstorbenen Väter der Venal Laws in ihren Gräbern sicher zum Rotieren brachte).
Der Totengrund war nun zwar nicht mehr konfessionalisiert, wohl aber in Klassen geteilt. Wer nicht bezahlen konnte, wurde im Poor Ground verscharrt. Während also wohlhabende Katholiken sich mit ihren armen Glaubensbrüdern auch im Tod nicht gleichstellen lassen wollten, mochten viele Protestanten weder sich noch ihre Angehörigen zusammen mit Katholiken auf ein und demselben Friedhof wissen. So entstand in Dublins Süden der Mount Jerome Cemetery - »for protestants only«.
Jetzt entdecke ich mich dabei, daß ich inmitten der Gräber, zwischen Steinen, Erde, Kies, niedergekniet bin und in der Hand etwas Grünes halte, Wildkraut wahrscheinlich, Halme, Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne, die mich aber irgendwie beruhigen. Da will mir etwas stärker scheinen als der Tod, der sich hier so allmächtig gibt, da sprießt etwas und lebt weiter und läßt sich nicht besiegen. Daß sich das auch auf unsere Gattung übertragen läßt, kommt mir in der Totenwüste des Glesnevin Cemetery wie ein ungeheurer Trost vor, nicht im Sinn einer Fortdauer des Daseins danach, sondern immer neuen Lebens.
Ich atme auf, als ich wieder am Eingang stehe und davor zwei Arbeiter sehe, die mit einer großen Maschine die Straße säubern - irdisch, lebendig, gegenwärtig. Und Neill.
Er ist nicht mitgegangen auf den Friedhof, sondern hat draußen gewartet. Ich habe mir abgewöhnt, ihn nach den Gründen zu fragen, warum er einmal mitgeht, ein anderes Mal nicht. Diesmal nennt er den Grund, auf der Rückfahrt, außer Sichtweite von Glesnevin.
»Da liegt eines meiner Kinder, ein Junge«, sagt er. »Er ist nur vier Monate alt geworden.«
Ballsbridge, Dublins vornehmer Süden, St. Mary’s Road - wunder-, wunderschöner Georgian Style !
Nr. II, Mount Alexander - Backstein, weißgerahmtes Portal, Rundbögen, eine von Dublins berühmten Türen, mit goldenem Knopf und goldener Klingel; Rotdorn im Vorgarten, an der Mauer vorn üppiges Fliederviolett.
Nr. 15 - die Tür unter dem hellen Portal von fast schwarzem Blau, schwarz glänzend auch Staket und Tor, in der Buche eine Drossel, ihr Abendlied tirilierend.
Auf der anderen Seite ein Haus mit hervorkragendem Dach, efeubewachsen bis hoch hinauf, das Tor weiß, im Garten auf mannshohen Dickstengeln leuchtende Blüten, daneben ein Busch mit wasserfallartig herabhängenden roten Blumen.
Wieder auf dieser Seite der St. Mary’s Road ein Haus mit Namen »Easter Snow« - österlicher Schnee. Hingebungsvoll, immer wieder mit dem Lappen darüberhin, putzt
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