Mein irisches Tagebuch
eingestürzten Säulen und der ausgehebelten Dublintüren trat, dafür kann als eines der abscheulichsten Beispiele das St. Stephen’s Green Shopping Center gelten, direkt gegenüber dem Eingang zum St. Stephens Green Park. Diesem Machwerk architektonischen Schwachsinns, das seiner Fassade wegen im Volksmund zutreffend »Mississippidampfer« genannt wird, fielen die siebzig hauptsächlich georgianischen Häuser um den Dandelion-Trödelmarkt zum Opfer.
Es ist zum Gotterbarmen!
Renommierte Auktionshäuser, originelle Buchhandlungen und Antiquitätenläden am Bachelor’s Walk verfallen, weil kein Geld für ihre Restaurierung da ist. Aus dem gleichen Grund und wegen fehlender musealer Sorge zerbröckeln ganze Straßenzüge langsam zu Ruinenlandschaften, so in der Upper Merrion Street und der Lower Fitzwilliam Street. Gebiete, deren Sanierungspläne seit Jahren, manchmal seit Jahrzehnten vorliegen, sind längst in unkrautüberwucherte Trümmerfelder verwandelt. In der Capel Street werden Gebäude mit imponierenden Treppenhäusern und Stuckziselierungen den Kahlschlägen für innerstädtische Verkehrsstraßen weichen müssen, wie auch Stadtpaläste in der Henrietta Street und alte Häuser in der Eccle Street der Seelenlosigkeit einer überall gleich aussehenden Beton-Glas-Stahl-Mixtur.
Widerstandslos wird das heute allerdings nicht mehr hingenommen. Es gibt Bürgerproteste und die rege Dublin Georgian Society. Aber ihnen steht die Dublin Corporation gegenüber, die eigentlich zur Erhaltung des architektonischen Erbes da ist, oft aber wie der verlängerte Arm der irischen Bauindustrie wirkt. Man ahnt etwas von den ungleichen Kräfteverhältnissen, wenn man erfährt, daß der Jahresetat für Restaurierungen unter 100 000 Pfund liegt, während die Mittel für den Ausbau der Dubliner Verkehrswege und ihrer Verbindungen zu den suburbs , den Vororten, fast eine Viertelmilliarde Pfund betragen.
Ich gehe die Northumberland Road über die St. Mary’s Road hinaus und stoße dabei an der Ecke Lansdown Road auf den Betonbau einer irischen Großbank, achtstöckig, gesichtslose Fensterfront, ein Monstrum häßlichster Moderne. Gegenüber, von der anderen Straßenseite, ist Abstand genug, um beides im Auge zu haben - den einfallslosen, funktionalen, ungeheuer abstoßenden Betonklotz da drüben, und weiter links, in langer Front, die Schönheit des georgianischen Teils der Northumberland Road - ein schockierender Gegensatz.
»Stadtsanierung« - das ist kein Splitter, das ist ein Balken in Dublins Auge.
Ungeachtet dessen hat die Liebe der Dublinerinnen und Dubliner zu ihrer Stadt, der »fairly city«, oft einen geradezu mythischen Charakter. Und im »Gresham Hotel« stoße ich auf ein besonders bewegendes Zeugnis dieser Verbundenheit.
Ich habe mir angewöhnt, nach den anstrengenden Märschen und Besuchen in der Innenstadt das alte fahnenumwehte Hotel an der oberen O’Connell Street aufzusuchen und mich dort im Foyer bei wohliger Müdigkeit, leiser Musikberieselung und dem geschäftigen Hin und Her des zuvorkommenden Personals mit Tee, Sandwiches (roastedturkey!) und süßem Gebäck verwöhnen zu lassen. Vertraut ist es mir geworden, das Ambiente der Ladies in karierten Hosen und der tweedgekleideten Gentlemen, die den »Irish Independent« und die »Irish Times« lesen oder unter den Lüstern des hohen Raumes taktvoll gedämpft parlieren, während jetzt gerade ein atemberaubender Mini über schlanken Fesseln die Köpfe sämtlicher Männer in die gleiche Richtung zieht.
Just in dem Moment, da auch ich mich davon löse, fallt mein Blick in einer Frauenzeitschrift auf die schreiende Zeile »Dreary, dirty, daft, dreamy Dublin!« (also »Ödes, dreckiges, blödes, verschlafenes Dublin«).
So lautet die wüste Anrede im ersten einer Serie von fünf Briefen, die eine vor dreißigjahren emigrierte Dublinerin mit Vornamen Ailish an die Stadt ihrer Herkunft gerichtet hat, und die auf diesen Seiten abgedruckt werden - die Geschichte einer zähen Wandlung, in deren Lektüre ich mich mit wachsendem Entzücken vertiefe.
Unmittelbar nach der Auswanderung geschrieben, ist der Text des ersten Briefes eine Ansammlung von Flüchen: Dublin, das sei ein Ort, an dem Verfaultes für das Frischeste ausgegeben werde, wo es nach Mittelalter rieche und die Läden hoffnungslos old-fashioned seien, mit ihrem künstlichen Plunder, billigen Kleidern und kratzigem Wollzeug. Sie, die Schreiberin, habe sich auch innerlich weit, weit entfernt von dieser
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