Mein irisches Tagebuch
Moore (1779-1852) vertonte Lieder gesungen.
Das Haus war 1982 erworben worden - eine Ruine, deren Restaurierung aussichtslos schien. Dann tat sich das Wunder einer gelungenen Finanzierung, die benötigten 600 000 Pfund, etwa eineinhalb Millionen Mark, kamen tatsächlich zusammen, und seit 1994 ist das zweistöckige Anwesen mit seinen Fenstern und Baikonen, dem gepflegten Interieur seiner Zimmer und Säle ein Schmuckstück aus alter Zeit im modernen Dublin - eben das James Joyce Center.
Ich war eine halbe Stunde zu früh gekommen und hatte Muße, mich im Haus umzusehen. Im Parterre ein großer Tisch, feierlich für das morgige Frühstück gedeckt - nur für eingeladene Gäste; im ganzen Haus vorzüglich ausgeführte Stückarbeiten, nostalgisch knarrender Boden, manche Räume noch leer. An den Wänden und unter Glas Gemälde und Fotos, James Augustin Joyce (18271865), der Großvater als Jüngling; Urgroßmutter Ann Mac-Cann,geboren um 1800; »JJ», der berühmte Nachfahre, als Poster über einem Kamin und als Büste.
Was mich später dann wunderte, war die geringe Zahl von Besuchern, die zu der Veranstaltung gekommen waren an dieser neuralgischen Stätte und aus diesem Anlaß.
Als ich nun, hier in »Davy Byrne’s Pub«, dem Mann, der sich als Percy M. vorgestellt hat, auf seine Frage wahrheitsgemäß antworte, ich sammelte den Stoff für ein Buch über Irland, fällt ihm vor Begeisterung fast die Pfeife aus dem Mund. Er legt mir die Hand mit dem »Ulysses« auf die Schulter, ruft so laut, daß er alles übertönt: »O that’s wonderful!« und sagt, leise an meinem Ohr: »Das hat er auch verdient, unser James Joyce.«
Dann schlägt Percy M. die Seite 276 seines »Ulysses« auf und legt mir etwa eine halbe Stunde lang dar, daß der Text besonders schwer in andere Sprachen zu übersetzen sei. Er sei des Französischen und des Spanischen mächtig und habe anhand der dortigen Ausgaben immer wieder feststellen müssen, daß der Text gerade dieser Seite außerordentlich variiert wiedergegeben werde. Dabei schaut Percy M. mich an, als könne die endgültige Erklärung dafür nur von mir kommen.
Statt dessen frage ich ihn, ob er mir sagen könne, weshalb die gestrige Veranstaltung im James Joyce Center so schlecht besucht war. Und da wird der glühende Joyceianer sichtbar verlegen, sucht nach Worten, sagt dann, wie entschuldigend: »Wir haben so viele berühmte Leute«, und fügt der dürftigen Auskunft tapfer an: »Es ist wahr, Dublin, seine Stadt, erweist James Joyce nicht die gebührende Reverenz.«
Stimmt das - nach allem, was sich an diesem Tag getan hat in der Metropole und wovon ich nur einen winzigen Ausschnitt mitgekriegt habe?
Heute fährt Neill S. mich spät in mein Quartier.
Ich habe mit ihm oft über James Joyce gesprochen und dabei einen profunden Kenner seiner Werke kennengelernt. Und doch wollte ich, ungeachtet der tiefen inneren Anerkennung, einen Vorbehalt entdeckt haben, etwas, das in ihm hakte und sich vollständigem Einvernehmen versagte. Neill S. hat das mir gegenüber dann auch zugegeben, ohne es definieren zu können. Er hat nur gesagt, und der Satz war mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen: »Es ist ein Gefühl - so ein bestimmtes Gefühl.«
Welches? Ich möchte es gern wissen.
1902, nach den ersten Veröffentlichungen von James Joyce, hatte der angloirische Lyriker und Essayist George William Russel (1867-1935) geschrieben: »Er ist genial, aber er hat keine Imagination. Er kann sich nichts ausdenken, er muß es erlebt haben. Er ist klug, intelligent, seine Prosa ist schön, wird aber nur vom Intellekt her bestimmt.«
»Ist es das?« frage ich Neill S. auf der Heimfahrt, nachdem ich ihn mit Russels Ansicht bekanntgemacht habe. »Ist Joyce Ihnen nicht poetisch genug?«
Er stockt, ja, mir scheint sogar, daß Neill S. für eine Sekunde den Fuß vom Gaspedal nimmt. Dann sagt er: »Das kann es sein, zuviel Alltag, großartig, bis in die letzten Haarwurzeln verfolgt, aber einfach zuviel Alltag.«
David Morris, einer der verrücktesten Joyceianer unserer Zeit, Umweltschützer, Schwulenrechtler, Englischdozent und Senator, schreibt heute im »Irish Independent« über die Odyssee des James Joyce und der Nora Barnacle-Joyce: »Wenige Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten, gingen sie miteinander durch nach Europa, familienlos, ohne Geld und ohne Segen, ohne formale Verpflichtung und ohne den Tausch von Ringen. Aberjames Joyce gab Nora Barnacle vielleicht das wundervollste und romantischste
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