Mein irisches Tagebuch
bemächtigten sich der Schlüssel und schlossen erst dieses Tor, dann die drei anderen. Der Überraschungscoup war den Angreifern mißlungen, aber den Bewohnern stand die Apokalypse noch bevor.
In der eingeschlossenen Stadt drängten sich 35 000 Menschen, auf die mehr als 600 Kanonenkugeln abgeschossen wurden (die größte davon, eine Riesenbombe, sah ich eingemauert auf dem Friedhof der Kathedrale). Es herrschte Wassermangel, und der Hunger war so groß, daß Ratten, Katzen und Mäuse verkauft und gegessen wurden, ehe der Durchbruch von See her gelang und die Stadt am 12. August, nach 105 Tagen Belagerung, entsetzt wurde durch die Truppen Wilhelms von Oranien (bald darauf König William III. von England).
»No surrender« - »keine Übergabe«, lautete die Parole.
Sie ist es geblieben.
Ich finde sie jetzt, hier auf der Mauer vor der Apprentice Boys Memorial Hall, wieder in einer Broschüre, die 1989, zum 300. Jahrestag der Belagerung, mit dem Titel »Still under Siege« (»Noch immer unter Belagerung«) herausgekommen ist. Darin lese ich: »Die damalige Situation ist der der Ulster-Protestanten von heute sehr ähnlich - no surrender!«
Die protestantische Mehrheit Nordirlands die Belagerten? Damals wie heute? Die Gleichsetzung erschreckt mich, und Paul O’Connor merkt es. »Wir waren die Belagerten, wir Katholiken«, sagt er, »und sind es immer noch, obwohl sich viel geändert hat.«
Düster anzusehen ist die »Lehrlingserinnerungshalle«, vor der wir stehen, als wenn seit ihrer Errichtung im Jahr 1873 außen keine Hand mehr an sie gelegt worden ist. Nur an einer Stelle scheint ein Sandstrahlgebläse gearbeitet zu haben, was die übrige Front nur noch finsterer macht. »Von dieser Stelle sind sie jedes Jahr am 12. August abmarschiert, haben von oben auf uns herabgeschimpft und auf die Bogside, eines unserer Stadtviertel, gespuckt - bis zum 12. August 1969. Seit jenem Jahr hat es den >Marsch der Apprentice Boys< nicht mehr gegeben, die Provokation wäre zu sichtbar gewesen. Aber«, Paul O’Connor stockt, setzt erneut an, »aber es heißt, in diesem Jahr wollen sie wieder marschieren, ausgerechnet, trotz des Waffenstillstands. Und davor ist noch der 12.Juli, an dem zur Erinnerung an die Schlacht am Boyne 1690 der Orange-Orden marschiert. Ich hoffe, in diesem Jahr nicht. Denn wenn da etwas passierte, an diesen beiden Tagen, das wäre schlimm, für alle. Ich sage dir, es wäre sehr, sehr schlimm, wenn das geschieht.«
Ich schaue von der Royal Bastion tief hinab auf ein Meer von roten Dächern - hier vorn die Bogside, dann Brandy well, Creg-gan, Rosemount, katholische Wohngebiete der nach Westen ausufernden Stadt. Mit bloßem Auge erkenne ich an einer Hauswand da unten in riesiger Schrift: »Free Derry Corner«, als wäre der katholische Teil eine autonome Zone.
Weiter links dehnt sich, wie eine kahle Stelle, ein endloses Feld von weißen Steinen - ein Friedhof, der City Cemetery. Geradeaus, als stünde er am Stadtrand, ein großer Turm, oben von einem Drahtkäfig umgeben, wie der Gesichtsschutz eines Fechters. Das reckt sich stählern hoch, wie etwas drückend Antiziviles mitten in Wohnvierteln, ein mehr als unbehaglicher Anblick. »Der britische Wachtturm von Rosemount«, sagt Paul, meinen Blicken folgend, »ganz nahe bei meinem Haus. Komm heute abend. Ich habe dir eine Menge zu erzählen.«
Am Nachmittag dann allein auf dem Friedhof - Tausende und aber Tausende von Gräbern, ich habe so etwas noch nicht gesehen, als wäre der City Cemetery von Londonderry ein einziger Sarg für ganz Nordirland.
Was ich suche, sind Reihen, die von Flaggen und Masten mit den Farben der Republik Irland gekennzeichnet sind. Ich lese: »In loving memory of our darling William James Best, killed 21. of May 1972« - im Alter von achtzehn Jahren und zehn Monaten getötet. Um das blumengeschmückte Grab ein kleines Gitter.
Danny Doherty, »died for Ireland 6. December 1984«, nach der Grabinschrift mit 59 Kugeln im Leib.
Daneben »In loving memory of our son Manus Deery, murdered by British troops, 19. May 1972 - aged 15.«
Schülerinnen und Schüler, so um die dreizehn, vierzehn Jahre, kürzen sich den Weg nach Hause über den Friedhof ab, lachen, scherzen, verschwinden, ohne einen Blick auf die Gräber geworfen zu haben, durch ein kleines Tor des Metallzauns, der stacheldrahtgekrönt Friedhof und Wohnviertel trennt.
Ich bleibe noch, wenn auch mit starkem Appell an meinen Fluchtinstinkt.
Als Kathleen Thomson am 6.
Weitere Kostenlose Bücher