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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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November 1971 durch britische Truppen getötet wurde, war sie 47 - »a dear wife and mother«.
    Der Freiwillige James Moyne war in Gefangenschaft geraten, hatte Asthma, bekam aber nicht die nötigen Medikamente (so entnehme ich der Inschrift) und starb am 13. Januar 1975.
    Daran - oder an etwas anderem? Da hakt etwas in mir, das sich in Zweifelsfällen nicht auf eine Seite festlegen, sondern auch die andere anhören will. Daß aber die IRA-Leute in englischen Gefängnissen nicht schonend behandelt werden, dafür zeugte vor wenigen Tagen eine Meldung in der »Irish Times«. Danach wurde ein Gefangener, der einer schweren Krebsoperation unterzogen werden sollte, von einem Gefängniswärter an einer Kette in den OP-Saal gebracht. Während der Operation waren anwesend: der Gefängnisleiter, drei Polizeioffiziere und vier bewaffnete Polizisten. Anschließend wurde der Gefangene in Ketten wieder in seine Zelle geführt.
    Über dem City Cemetery liegt strahlender Sonnenschein.
    Ich lese, drei Schritte vor mir: »Michael Gerald Kelly, 17, murdered by British paratroopers, 30. January 1972«.
    Am gleichen Tag starb auch »our dear son William (Siff) Nash, murdered by British paratroopers, 19.«
    Das Datum wiederholt sich auf vielen Gräbern hier: der 30. Januar 1972, als bloody Sunday eingegangen in die Annalen des nordirischen Bürgerkriegs. An jenem Sonntag eröffneten britische Fallschirmjäger das Feuer auf eine friedliche Bürgerrechtsdemonstration in der Bogside - vierzehn Tote. Sie wurden hier begraben.
     
    Im Rücken die Hauswand mit dem Riesengraffito »Free Derry Corner«, stehe ich wenig später vor dem Bloody Sunday Memorial, dort, wo das Massaker stattgefunden hat. Der Gedenkstein ist ein schlichter sechseckiger Block, grau, kunstlos, der am 26. Januar 1974 eingeweiht wurde und die Namen und Alter der vierzehn Toten aufführt - der älteste von ihnen war 59, die jüngsten 17, ihrer gab es fünf. Darunter steht: »Who were murdered by British paratroopers on bloody Sunday, 30. January 1972.«
    An den Wänden um mich herum lese ich die Namen von Gefallenen der »Derry Brigade« - Joe Coyle, Tommy MacCool, Tommy Carlin. Vor jedem Namen steht »oglah«, das gälische Wort für »Freiwilliger«. Ich bin hier in der Hochburg des irischen Republikanismus und Nationalismus, eine Kapsel im staatlichen Rahmen des protestantischen Unionismus, der im Vereinigten Königreich der Briten verbleiben will - riesige Kräfte und Gegenkräfte in einem winzigen Land.
    Unheil liegt in der Luft.
    Mir kehrt die Erinnerung an den erschossenen Danny O’Ha-gan zurück, damals in Belfast, Herbst 1969 - die zarte Leiche des Neunzehnjährigen, das kleine Loch oberhalb der Nasenwurzel, der tränenlos weinende Vater am Bettrand, die versteinerte Mutter, die erloschenen Gesichter der Geschwister.
    Drei Jahre später wurde in Enniskillen durch eine Bombe der IRA ein Vater mit seiner Tochter unter dem herabstürzenden Gemäuer begraben. Sie konnten sich noch die Hand geben, sich aber nicht bewegen. Auch sehen konnten sie sich nicht, nur hören. Dann und wann sprachen sie miteinander, wobei sie versuchten, sich gegenseitig Mut zu machen. Dabei fragte der Vater die Tochter jedesmal, ob es ihr gutgehe, und sie antwortete: »Ja.« Bis keine Antwort mehr kam. Nur der Vater überlebte.
    Als ich vor ein paar Tagen, bei Vorbereitungen für diesen letzten Abschnitt meiner Reise, in den Unterlagen aus den siebziger Jahren blätterte, widerfuhr mir etwas Seltsames.
    Da waren sie noch einmal, die Horrorziffern von damals: 1972 hatte es in Nordirland 1382 Bombenanschläge gegeben, und 1973, dem Jahr des schlimmsten Terrors, waren 322 Zivilisten, 103 britische Soldaten und 41 Polizisten umgekommen.
    Als ich das las, hatte ich in mir plötzlich den starken Wunsch, »Mein irisches Tagebuch« ohne die fünfte Rubrik, ohne das »andere Irland« zu schreiben. Wollte ich darauf verzichten und es bei den Schilderungen, Bildern, Momentaufnahmen aus der Republik belassen, weil der damals hier miterlebte Schrecken einen doch nur wieder einholen und doppelt wiegen würde, zumal das eigene Leben ja so ohne Schrecken auch nicht davongekommen war. Aber es ging dann doch nicht. Es ging vor allem deshalb nicht, weil es meiner Hoffnung widersprochen hätte, daß der cease-fire, der von der IRA angebotene und bisher von beiden Seiten eingehaltene Waffenstillstand vom 30. August 1994 andauern würde und damit die keimhafte Erwartung auf eine dauerhafte Wende vielleicht doch

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