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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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eine besondere Rolle gespielt haben soll.
    Es gibt unheimliche Anzeichen dafür, daß diese Auseinandersetzung noch nicht ihr Ende gefunden hat. Wie über dem Bishop’s Gate kann die Mauer auch über den drei anderen Toren -Ferryquay Gate, Shipquay Gate und Butcher’s Gate - durch mächtige Stahlgitter geschlossen werden. »Um zu verhindern, daß von hier oben Bomben geworfen werden können«, erklärt Paul mit einem sarkastischen Unterton. Und als vom Rathaus die Glocke im Stil des Londoner Big Ben von Westminster jetzt elfmal anschlägt, sagt er: »Die Ratsmehrheit von Derry ist heute katholisch, aber sie hat an dieser Zeremonie nichts geändert.«
    Mir fällt auf, daß Paul stets Derry, nicht Londonderry sagt. Warum? »Weil diese Stadt immer Derry hieß, bis der englische König James I. sie 1613 dem Einfluß großer Geschäftsleute und mächtiger Politiker von London mit einer Charta übergab, in der es plötzlich Londonderry hieß. Wir haben sie nie so genannt und werden sie auch nie so nennen. Ich lebe in Derry.«
    Was ist Pauls Haltung zum Nordirlandkonflikt, welche Lösungen schweben ihm vor? Welche Einstellungen hat er zum Bombenterror der IRA und überhaupt zur bewaffneten Auseinandersetzung der paramilitärischen Untergrundverbände beider Seiten? An Antworten auf Fragen wie diese werde ich mich vorsichtig herantasten müssen.
    Sowohl vom Shipquay Gate, dem Tor, das zum River Foyle führt, als auch von Butcher’s Gate, wo einst der Schlachthof war, kann man »The Diamond« erkennen, das Zentrum der ummauerten Stadt mit der beflügelten schwert- und kranzbewehrten Siegesgöttin hoch auf einer Säule über einem uniformierten »Tommy«, einem britischen Soldaten, der sein Bajonett nach unten sticht. Klein ist das historische Viertel, in noch nicht zehn Minuten von einem zum anderen Ende zu durchschreiten, und auch auf der Mauer braucht es nicht mehr als eine halbe Stunde, um sie von der Church Bastion bis zum Watch Tower zu umrunden.
    Und doch spüre ich die geschichtliche Gravitation des Orts, die ungeheure Kompression eines Konflikts aus der Tiefe der Jahrhunderte - wir sind bei der Royal Bastion angekommen, deren leere Plattform nichts Gutes verkündet. 1828 von John Smythe für 4220 Pfund an dieser Stelle errichtet, hatte die Statue des Reverend George Walker, Bürgermeister des belagerten Londonderry und Schlüsselfigur seiner protestantischen Verteidiger, auf einer Hochsäule 145 Jahre lang unversehrt die Zeiten überdauert - bis am 27. August 1973 eine ungeheure Explosion die Luft erschütterte und von dem Denkmal nichts als pulverige Reste blieben. An der Täterschaft der IRA hat es nie einen Zweifel gegeben.
    Der Anschlag geschah vier Jahre und acht Monate nach Ausbruch der troubles, also jenes Bürgerkriegs, der am 12. August 1969 von einer Stelle seinen Ausgang nahm, der ich jetzt gegenüberstehe - der Apprentice Boys Memorial Hall, einer »Lehrlingserinnerungsstätte«, burschikos übersetzt. Was protestantische Ohren nicht hinnehmen würden - geht es doch um die sakralste Geschichtsreliquie des nordirischen Protestantismus: den siegreichen Kampf der Stadt gegen den katholischen König James II., Teil der großen Auseinandersetzung, ob das anglikanische England Heinrichs VIII. und Königin Elisabeths I., seiner Tochter, durch die Stuarts rekatholisiert werden würde oder nicht. Ein Kampf, der dann schließlich durch jene berühmte Schlacht am Boyne River vom 12.Juli 1690 durch Wilhelm von Oranien zugunsten der Reformation entschieden wurde. Es bleibt fraglich, ob es dazu gekommen wäre, wenn die Stadt am Unterlauf des Foyle River gefallen wäre.
    Daß sie nicht schon beim ersten Ansturm der Truppen James II. gestürmt wurde, hing zusammen mit der Wachsamkeit von dreizehn Lehrlingen, der apprentice boys.
     
    Unterstützt von Kapitänen, Generälen und Waffen seiner Allerkatholischsten Majestät Ludwigs XIV., König von Frankreich, war James II. am 8. April 1689 mit 12000 Mann bei Dublin gelandet. Nach der Zerstörung von Omagh am 14. April tauchte die für damalige Zeiten große Armee nach einem Gewaltmarsch vier Tage später unvermutet vor Londonderry auf, dessen Tore unverschlossen waren.
    Die Katastrophe eines ungehinderten Einmarsches wurde nur dadurch verhindert, daß eine Gruppe von Lehrlingen unter Führung von Henry Campsy geistesgegenwärtig reagierte: Zufällig an der gefährdetsten Stelle, dem Ferryquay Gate, kurbelten die jungen Männer, ohne zu zögern, die Zugbrücke hoch,

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