Mein irisches Tagebuch
berechtigt wäre.
Ich bin dann also doch gefahren, aber ich hatte vorher nicht gewußt, wie schwer es mir fallen würde.
Der bewaffnete Kampf hat jetzt keinen Sinn mehr
Abends führt Paul O’Connor mich durch die nackten, baumlosen Straßen von Rosemount zum Wachtturm.
Aus der Nähe ist das Monstrum noch unheimlicher, wirkt der schwere Drahtkorb um die Spitze noch gewaltiger als aus der Ferne - das Ganze ein stählerner, von einem rotbraunen Metallzaun umgebener und wie in Feindesland eingepflanzter Fremdkörper, der das katholische Viertel ringsum souverän überragt und bewacht.
An einer Hauswand gegenüber, Verkehrsverbotsschildern täuschend nachgeahmt: ein roter Kreis mit weißem Feld und Querbalken über den drei schwarzen Buchstaben RUC (für Royal Ulster Constabulary, Nordirlands zu 92 Prozent protestantische Polizei). An einer anderen Wand, von der Turmspitze aus ebenfalls zu sehen, ein gleiches Schild mit durchgestrichenem Wachtturm.
»Seit dem Waffenstillstand lassen die Soldaten da oben sich kaum mehr sehen, aber da sind sie nach wie vor«, sagt Paul. »Die ganze Anlage ist wie für eine lange Belagerung gerüstet, mit unterirdischen Schlafsälen.«
Die Einwohner von Rosemount führen ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof: Der Turm sei ein Eingriff in ihre Privatsphäre, eine unzumutbare Verletzung von Persönlichkeitsrechten, und das wollen sie einklagen. »Merkst du«, fragt Paul »wie sich unser Selbstbewußtsein gewandelt hat?«
Das können funny things bestätigen, die vor dem Turm passieren, zum Beispiel, wenn Kinder auf die Dächer der umliegenden Häuser klettern und große Spiegel so halten, daß die Wachen sich darin sehen können. Oder jemand mit lauter Stimme einen Auktionator mimt, der den Turm zu versteigern hat: »Wer bietet mehr?«
Ich klopfe an den Metallzaun, der hohl klingt und unten brüchig ist, über dem Boden rostig ausgefranst von Feuchtigkeit und jahrzehntelanger Existenz.
Paul O’Connors Haus liegt fünf Minuten Fußweg entfernt, in der Grafton Street, und ist schmal wie die Grundstücke an den Grachten Amsterdams. Es ist einfach eingerichtet, hat ein Stockwerk und einen handtuchengen Garten, in den wir uns setzen.
Hier wird mir binnen kurzem eine Grundlektion vom Standpunkt der katholischen Menschenrechtsbewegung erteilt. »Gebrauche die allgemeingültigen Begriffe für das, was sich hier gegenübersteht: Unionisten und Loyalisten auf der protestantischen Seite, Nationalisten und Republikaner auf der katholischen. Alles andere führt zur Verwirrung.«
Drei ungelöste Probleme stehen im Vordergrund und behindern den eingeleiteten Friedensprozeß: erstens, die britische Forderung nach Entwaffnung der IRA (Decommissioning of Weapons) als Voraussetzung für, zweitens, Allparteiengespräche, in die Sinn Fein, der politische Arm der IRA, einbezogen werden muß, und, drittens, die Freilassung der politischen Gefangenen aus britischer Haft (Releasing of Prisoners), immer wieder zugesagt, aber nicht gehalten.
»Wenn Entwaffnung, dann für alle - für die IRA, die paramilitärischen Loyalisten und die britische Armee auf nordirischem Boden Jeder weiß, daß das unmöglich ist. Mit anderen Worten: Wer diese Forderung stellt, will keine Lösung.«
Mein Tonband läuft. »Weiter.«
Zahlen: Seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts im Jahr 1969 hat es an die 3500 Tote gegeben, davon 900 durch die Loyalisten, dazu 32 000 Verletzte. In diesem Zeitraum haben die Bombenanschläge einen Schaden von 800 Millionen Pfund angerichtet. In britischen Gefängnissen sitzen 400 Leute aus dem unionistischen Lager gegenüber 700 Nationalisten.
»Du hast doch für dein Buch die Geschichte Irlands studiert? Dann weißt du, daß in dem 1921/22 abgetrennten Teil, den sechs Grafschaften von Ulster, die protestantische Mehrheit so weiter regiert hat wie vorher. Katholiken, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, waren von jeglicher Einflußnahme ausgeschlossen. Bei Kommunalwahlen war nur stimmberechtigt, wer Steuern zahlte und über Hausbesitz verfügte, das heißt, beim Urnengang waren Katholiken einfach nicht anwesend, so gut wie ausgeschlossen. Militante Gruppen drangen in katholische Viertel ein, verwüsteten die Häuser, schlugen die Einwohner, und ab 1969 kam die Gewalt der britischen Truppen dazu. Die haben wir zuerst als unsere Bundesgenossen betrachtet, aber die Flitterwochen des Friedens, wie es genannt wurde,gingen schnell vorbei. Zähl mal nach: Uns standen drei
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