Mein irisches Tagebuch
sieht es ja aus, dann wird sie bleiben. Die Gründe, sich blutige Köpfe zu schlagen, entfallen bei gegenseitiger Anerkennung der Identität. Leute, die nicht übereinstimmen, müssen sich zusammensetzen und sich fragen: Was haben wir gemeinsam, was nicht? Was befürchtet ihr von uns, was wir von euch? Sind die Befürchtungen begründet oder nicht? Den anderen nicht beherrschen wollen, das meine ich mit neuen Strukturen. Ich glaube, diese Denkweise hat einen breiten Konsensus bei Katholiken und Protestanten.«
»Und warum funktionierte es bisher trotzdem nicht?«
»Weil Nordirland nach wie vor von London regiert wird. Das ist es, was ich nicht akzeptiere, diesen Status quo.«
»Was bedeutet das faktisch? Die Loslösung von England?«
»Darauf wird es auf die Dauer hinauslaufen.«
»Und auf die Vereinigung auch?«
»Ja - aber nur freiwillig, demokratisch, sonst nicht. Mit der Garantie, daß den Protestanten 25 bis 30 Prozent der Sitze garantiert werden.«
»Das liegt fern, sehr fern. Jetzt fürchten die Protestanten, daß Dublin, also die Regierung der Republik, als Gesprächspartner der britischen Regierung zuviel Mitspracherecht in den nordirischen Angelegenheiten hat. Sie fürchten, daß das framework, das Rahmenabkommen zwischen beiden Regierungen von 1985 und seine gesamtirischen Körperschaften (all Ireland bodies ) die Embryos einer gesamtirischen Regierung (all Ireland government) sind. Noch einmal: Kannst du diese Ängste der Protestanten verstehen?«
»Ja, aber sie sind unbegründet.«
»Noch einmal: Tut ihr genug, sie davon zu überzeugen?«
»Nein, es ist auch nicht leicht. Wir suchen das Gespräch mehr als sie, aber wir suchen es und haben dabei auch Erfolge.«
»Zum Schluß die Frage: Was ist mit der Gewalt, der bewaffneten Auseinandersetzung des Konflikts, den Bombenanschlägen, dem Todesterror?«
»Sprichst du von der Gewalt beider Seiten?«
»Selbstverständlich.«
Es ist dunkel geworden, ich kann Paul O’Connors Gesicht nur noch als hellen Fleck erkennen. Er spricht etwas lauter, weil am Himmel ein Helikopter kreist.
Dann sagt er: »Der bewaffnete Kampf hat jetzt keinen Sinn mehr. Die IRA und die republikanische Bewegung haben seit zwei, drei Jahren erkannt, daß es einen Waffenstillstand geben muß. Aber das ist wie ein Schachspiel, da müssen gewisse Spieler auf einem bestimmten Platz sein, damit sich die irische Geschichte nicht wiederholt. Ich denke, die IRA hat den Waffenstillstand nicht aus Schwäche erklärt. Gerade das bestätigt die neue Situation.«
»Und du meinst, der Waffenstillstand hält?«
»Ja, das glaube ich. Aber was mich trotzdem beunruhigt, ist die Unbeweglichkeit der britischen Regierung in allen drei Hauptproblemen - Entwaffnung, Allparteiengespräche, Freilassung der politischen Gefangenen. Und die Anzeichen dafür, daß die Unionisten im Hinblick auf den 12. Juli so tun, als hätte sich nichts geändert, als könnte einfach so weitergemacht werden wie bisher. Das beunruhigt mich sehr, denn in wenigen Tagen ist es soweit.«
Und dann fügt Paul O’Connor an, wobei er sich so weit zu mir herüberneigt, daß ich sein Gesicht wieder erkennen kann: »Es ist schrecklich, und es ist furchtbar, aber ohne Bomben hätte sich auf der anderen Seite gar nichts bewegt, nicht das geringste. Das ist von allen Problemen vielleicht das allerschlimmste. Verstehst du?«
Und noch einmal und noch näher: »Verstehst du?«
Mit Widerwillen kündigt unsere Kommandoebene an
Mein Nachtquartier, von Paul arrangiert, ist ganz in der Nähe, bei Geraldine B., Tochter einer irischen Mutter und eines englischen Vaters aus Leeds, die ich auf 35 Jahre schätze. Vor vier Jahren hat sie ihre Arbeit und alle Sicherheiten in England aufgegeben, hat sich hier in Londonderry einen von den schmalbrüstigen Altbauten gekauft und ist der republikanischen Sache völlig ergeben, wie schon unser erstes Gespräch am späten Nachmittag erkennen ließ.
Dabei geschah etwas, das mich sehr bewegte, ja erschütterte. Als es klingelte, zuckte Geraldine B. zusammen, mit dem unverkennbaren Zeichen von Bestürzung, ja, von Angst im Gesicht, ehe sie, nach einem kurzen Gespräch an der Tür, sichtlich erleichtert allein zurückkehrte.
Da mich ihre Reaktion an meine Mutter erinnerte, die nach einem ersten Besuch der Geheimen Staatspolizei im April 1933 bis an ihr Lebensende im Jahr 1979 zusammenzuckte, wann immer es an der Wohnungstür klingelte, konnte ich nicht umhin, Geraldine B. nach dem Grund ihres
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