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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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einem kleinen Mädchen aufgescheucht und verfolgt werden, wo immer sie niedergehen. Vielleicht drei Jahre alt, läuft das Kind atemlos zur Mutter zurück, berichtet ihr von der Jagd, ehe es erneut kreischend auf das nächste Opfer zuprescht. Ballspielen, der Konsum von Alkohol und skateboarding sind laut Tafeln streng verboten. Plastikbeutel, Blechbüchsen und Papier einfach liegenzulassen offenbar jedoch nicht.
    Am Donegall Place stellen junge Leute Schmuck aus, bieten Poster an, und in der Royal Avenue werde ich, zum Glück darauf vorbereitet, zum erstenmal mit dem Castle Court Center konfrontiert: eine ungeheure Glasfront in Form eines metallenen
    Gitters, mit gläsernen Fahrstühlen und gläsernen Rolltreppen, Weihestätte des Konsums, ein Verkaufstempel, womöglich noch scheußlicher als St. Stephens Green Shopping Center in Dublin. Aber drinnen, im Parterre, gibt es an einem unscheinbaren Stand das köstlichste Eis, das je nördlich des Brenner produziert worden ist.
    Ich gehe zurück. An der Kreuzung Castle Street/Donegall Place wird die City Hall wieder sichtbar, auf der Kuppel, jetzt schlapp, der Union Jack. Die Innenstadt von Belfast, der Kern der Nordirlandmetropole, ist in einer halben Stunde zu durchqueren.
    Aber hier, zwischen North Street und Oxford Street, Done-gall Pass und College Square, zeigt die Stadt ihre Schokoladenseite. Hier scheint niemand zu fragen, ob Katholik, ob Protestant, ist der Zaun um das Stadtzentrum weg, sind die Sperren entfernt und die Nachtbarrikaden überflüssig geworden, präsentiert sich ein hochmodernes Gemeinwesen auf dem Weg in eine bessere Zukunft.
    Doch dieses Bild verändert seinen Ausdruck schon hinter dem Hotel »Europe« in der Great Victoria Street. Von dort bis zur Sandy Row, einer Straßenarterie im protestantischen Viertel von Belfast, sind es nur ein paar Schritte. Und was sich da türmt, auf einem freien Platz, ist beunruhigend genug: alte Matratzen, alte Sessel, riesige Reifen von Lastwagen und Holz, Holz aller Art - schwere Balken, ganze Türen, Schränke, halbiert wie die Hälften von Schlachtvieh, rechteckige und quadratische Sperrholzplatten, abgesägte Stuhlbeine. Das alles noch unfertig aufgetürmt, erst auf der Hälfte der geplanten Höhe, aber schon sichtbar geformt als das, was daraus werden soll - ein Scheiterhaufen.
    Der wird, vollendet, um Mitternacht vom xx. auf den 12. Juli entzündet, das sogenannte bonfire, Auftakt für den großen Marsch des Orange-Ordens am folgenden Morgen zur Erinnerung an die siegreiche Schlacht am Boyne.
    Auf den menschenleeren Platz kommen zwei Jugendliche zu, beobachten mißtrauisch, wie ich mein Bandgerät in der Hand halte, und kehren sich dann ab. Ich rede sie trotzdem an, beantworte ihre Frage, was ich tue, worüber sie verwundert den Kopf schütteln, und frage meinerseits. 16 ist der eine, 22 der andere, eine feste Arbeit haben beide nicht, noch nie gehabt. Als ich wissen möchte, ob sie katholische Freunde hätten, fällt ihnen buchstäblich der Unterkiefer herunter, und sie schauen mich an, als wäre ich nicht recht bei Verstand. »Wir wohnen doch in getrennten Vierteln und kommen gar nicht mit ihnen zusammen«, sagt der Jüngere, erstaunt über soviel Unkenntnis. »Wenn wir Arbeit gehabt hätten, dann vielleicht, aber so.« Darauf der Ältere: »Auch dann wollte ich es nicht.« Es fällt schwer, seine Miene zu vergessen, die er bei diesen Worten aufsetzt, trotzig, aggressiv, von unsicherem Hohn.
    Ich starre auf den unfertigen Scheiterhaufen, diese unheimliche Vorwarnung, und gehe weiter die Sandy Row hinunter.
    Die Läden hier haben keinerlei Ähnlichkeit mit dem Schaufensterluxus der Citygeschäfte, die Auslagen kommen mir vor wie in Deutschland kurz nach der Währungsreform von 1948, unbeholfen dekoriert. Nur sind sie über und über bepflastert mit den Emblemen, den Farben und den Fahnen der Unionisten. In jedem zweiten Fenster die Abbildung der Queen, neben dem Abzeichen der Ulster Defender eine Wollzipfelmütze mit den Farben des Orange-Ordens. An den Hauswänden überall gemalte Poster, teils naiv, teils künstlerisch, aber alle übergroß und einheitlich gewaltverherrlichend: vermummte Gestalten mit dunklen Brillen und Maschinenpistolen - Ulster Freedom Fighters, Ulster Defence Forces, dahinter die Ziffern 1912, das Gründungsjahr der Organisation. Drüben ein Müllmann in einem grünlichen Leuchtanzug vor einer riesigen roten Hand, die eine Bombe mit funkensprühender Lunte hält. Es wimmelt von Namen

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