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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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gibt es auf beiden Seiten - haben Sie schon mal von den ’Shankill butchers’ gehört? Aber die gibt es wie die barbarische IRA, die gefoltert hat und Menschen verschwinden ließ, ohne daß sie je wieder auftauchten. Eine militärische Rechtfertigung gibt es dafür nicht.«
    Er bestellt sich einen Orangensaft. Draußen, auf der Great Victoria Street, wütet der normale Verkehr. Sein Motorengebrumm dringt fast ungefiltert durch die hohen Doppelscheiben.
    Dann fährt Stephen C. fort: »Nicht nur, daß die Embleme beider Seiten sich ähneln, auch örtlich sind die Kontrahenten nahe beieinander - Falls Road, Shankill Road. Das gilt in vielem aber auch innerlich. Niemand ist sich gleicher als diejenigen, die sich in diesem Konflikt am heftigsten bekämpfen - niemand ist sich ähnlicher als seine Extremisten. Beide, die IRA und die Ulster-Ultras, sind in das Drogengeschäft verwickelt. Sie tun zwar offiziell so, als ob sie die Dealer bekämpfen, ja, bringen sogar einige von ihnen um. Alibi! Glauben Sie weder den einen noch den anderen.«
    »Und das sogenannte punishment beating , also Prügel mit Baseballschlägern, Knochenbrüche, mit denen Leute aus den eigenen Reihen bestraft werden, die sich nach Ansicht der beater etwas zuschulden kommen ließen? Gibt es das auch auf beiden Seiten?«
    »Ja. Punishment beating findet auf beiden Seiten statt, wenn auch viel häufiger bei den Nationalisten als bei den Loyalisten. Was da zum Ausdruck kommt, ist furchtbar: Der Waffenstillstand ist erklärt, aber die Gewalt geht weiter. Sie hat sich in der Gesellschaft Nordirlands einfach instituiert. Und das, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung der Gewalt mehr als müde ist und hofft, daß jedenfalls ihre Mordetappe vorbei ist. Aber sicher scheint mir das nicht zu sein.«
    »Welche Rolle könnte die geforderte Entlassung der politischen Gefangenen bei der Sicherung der Waffenruhe spielen?«
    »Eine große, doch da bewegt sich nichts seitens der britischen Regierung, das muß zugegeben werden. Die Vorbehalte sind offenbar unüberwindbar. Aber natürlich müßten auch die protestantischen Gefangenen freigelassen werden.«
    Er schnippt nach dem Ober und bestellt sich einen zweiten Orangensaft. »Ich bin ein soft drinker, sorry«, kommentiert er wie entschuldigend, obgleich ich mich seiner Bestellung anschließe. Dann sagt er: »Keine Mißverständnisse - ich bin Partei. Die
    Mehrheit der nordirischen Bevölkerung will bei England bleiben, so bitter es sie schon enttäuscht hat und sosehr sie sich von London im Stich gelassen fühlen. Da sind beträchtliche Minderwertigkeitsgefühle im Spiel, die machen die protestantischen Nordiren zu britischeren Briten als alle anderen. Sie fühlen sich nicht als gleichberechtigt, sondern als Bastarde unter den Gliedern Großbritanniens und des Vereinigten Königreichs Je mehr das britische Element bedroht wird, desto inniger hängen sie sich dran. Das alles ist viel eher politisch und sozial motiviert als religiös. Es könnte keinen größeren Irrtum geben, als zu meinen, die Menschen hier seien besonders gläubig. Stimmt nicht, ihre Mehrheit ist, wie überall, indifferent.
    Was die Unionisten so religiös scheinen läßt, ist der Druck, dem sie sich ausgesetzt fühlen - seit eh und je die Mehrheit im britisch zugehörigen Ulster, wären sie in einem keltisch-katho-lisch dominierten Gesamtirland nur eine Minorität, wenngleich eine starke. Die meisten spielen nicht einmal mit dem Gedanken einer Vereinigung, sie fürchten ihn nur. Muß man nicht versuchen, auch das zu verstehen?«
    Mir fällt auf, daß Stephen C. begonnen hat, leiser zu sprechen. Wir sitzen in der Nähe der Bar, und er will offenbar nicht, daß andere mithören.
    »Hinter allem, was die Unionisten hier aufführen, hinter ihrem Fahnengeschwenke, ihren Märschen, ihrem ganzen Getöse, steckt Angst, lebt die Furcht, daß sie durch stärkere Mächte, durch ein Zusammenspiel von Dublin, der mächtigen irisch-amerikanischen Lobby und London schließlich doch die historischen Verlierer sein werden - >cornered rats<.«
    »In die Enge getriebene Ratten - das darf nur ein protestantischer Ulster-Mann sagen.«
    »Richtig, und darum tue ich es auch. Sie fürchten, daß sie weggeschwemmt werden, daß die Nabelschnur nach England durchgeschnitten werden könnte. Dabei - solange es demokratisch zugeht, brauchen sie nichts zu fürchten. Ich sage Ihnen: Nicht nur 56 Prozent der Nordiren, also der protestantische Bevölkerungsanteil, sondern 80 Prozent,

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