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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Verhaltens zu fragen. Worauf sie mir stockend berichtete, daß sie vor zwei Jahren vierzehn Tage lang in britischem Arrest gewesen sei, ohne daß sie jemals erfuhr, was der Grund für die Verhaftung war. Obwohl sie weder gefoltert, noch ihr sonst Gewalt angetan worden sei, bleibe das Erlebnis unverwunden. »Die Macht hatte ihr Gesicht gezeigt«, sagte sie, »sonst nichts. Aber das hat genügt.«
    Ihre Gastfreundschaft und Höflichkeit sind so wohltuend wie ihre Offenheit und Wärme. Ganz selbstverständlich hatte sie mir einen Schlüssel mitgegeben. Aber als ich komme, gegen 23 Uhr, ist Geraldine B. schon zu Bett gegangen. Müde nach diesem Tag, kann ich in meinem Zimmer dann doch nicht einschla-fen. Und das nicht nur, weil von draußen das Licht der Straßenlaterne durch die dünnen Gardinen fallt und trotz der späten Stunde noch die Stimmen spielender Kinder heraufdringen. Was mich nicht schlafen läßt, ist die Suche nach einer Antwort auf Paul O’Connors Erklärung: »Ohne Bomben hätte sich auf der anderen Seite gar nichts bewegt. Verstehst du?« Wenn das stimmte, wäre das nicht die furchtbarste aller Wahrheiten?
    Ich kann in mir genau orten, nach welcher Seite in dem großen Konflikt Nordirlands zwischen Unionisten/Loyalisten und Republikanern/Nationalisten sich meine Sympathien neigen: auf die der katholischen Minderheit. Aber das kann keine Akzeptanz bedeuten für alles, was von dort kommt.
    Ich hatte Gelegenheit, in einer Werbeschrift der republikanisch-nationalistischen Bewegung zu blättern, »The Captive Voice« (»Die Stimme der Gefangenen«), ganz offensichtlich ein Organ der IRA. Darin wird in einem Artikel über Menschenrechte und soziale Veränderungen so etwas wie eine Chronologie des Bürgerkrieges aufgeschrieben. Das liest sich über die mehr als 25 Jahre wie eine einzige Kriminalgeschichte der protestantischen Seite gegenüber der katholischen, ohne jede Differenzierung. Einfach schwarzweiß, Gut gegen Böse, jenseits jeder Andeutung, ob es unter den Unionisten auch menschliche Regungen oder gar verständliche Gründe für ihre Haltung gibt. Was ist daran richtig außer den Namen der getöteten Republikaner? Und wieso wird kein Wort über die Opfer der IRA-Anschläge verloren? Das ist mir alles nicht unbekannt, diese Schuldzuweisungen an bloß eine Seite, während die eigene Ge-waltpraxis gerechtfertigt wird. Das ist mir hundertfach begegnet in Gestalt jener Internationale der Einäugigen, deren eine Fraktion auf dem linken, die andere auf dem rechten Auge blind ist, beide aber in einem Teil der Welt bekämpfen, was sie im anderen praktizieren oder dulden, sie sich also in Wahrheit miteinander im gleichen Ungeist raufen.
    Ein Beispiel aus »The Captive Voice«: Da geht in der Shankill Road, einer großen Straße im protestantischen Belfast, vorzeitig eine Bombe der IRA hoch, die zehn Menschen tötet, auch den Attentäter. Es sollte ein Anschlag auf die Kommandozentrale der paramilitärischen Ulster Defense Army (UDA) werden, nicht auf die protestantische Zivilbevölkerung. In ihrem Bekenntnis zu dem Attentat wird den Loyalisten von der IRA vorgeworfen, was sie selbst tut, nämlich unschuldige Menschen zu treffen. Dabei wehrt sie sich dagegen, den Kampf als Sekte zu fuhren, wirft aber eben das den Ulster-Ultras vor. Und weiter:
    »Wann hat der britische Premierminister jemals im Fernsehen eine Stimme der Sympathie für die katholischen Opfer des nordirischen Protestantismus gefunden, die die Politik des britischen Staats verursacht hat? Sind wir Katholiken die Kinder eines geringeren Gottes? Ist das vergossene Blut der unschuldigen Katholiken, sind die Tränen der katholischen Mütter weniger wert? Niemals haben britische Politiker ihnen gegenüber die gleiche Trauer gezeigt wie nun gegenüber den protestantischen Opfern der Shankill Road.«
    Einmal abgesehen von der falschen Gottespoetik und davon, daß es stimmt, was da über britische Politiker behauptet wird -merken die Verfasser gar nicht, daß sie das Spiegelbild des eigenen Ego entwerfen? Was ist mit dem vergossenen Blut unschuldiger Protestanten, den Tränen protestantischer Mütter?
    Ja, die historische, politische und soziale Ausgangsposition der katholischen Minderheit war und ist in diesem Konflikt nicht die gleiche wie die der protestantischen Mehrheit, und deshalb stelle ich mich innerlich und in diesem Buch auf ihre Seite. Aber welche berechtigten Gründe, welche verständlichen Motive Katholiken in Ulster auch immer haben, sich

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