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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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dem Radio nebenan dringen Nachrichten von Gewalt an vielen Orten Nordirlands - Benzinbomben gegen die Wohnung einer katholischen Familie in Portadown, mit schwerem Sachschaden, aber ohne Verletzte. Im County Antrim ging eine Halle des Orange-Ordens in Flammen auf. In Dungannon, Armagh und Crosmaglen sind Autos angezündet worden. Und dazwischen immer wieder der Name private Lee Clegg.
    Ich stehe auf und wechsele wieder auf die andere Seite über.
    An der Sperre vorn haben immer neue Redner über Lautsprecher gesprochen, monoton und von rhythmischem Applaus unterbrochen. Bis ein Raunen durch die Menge weht, aufschrillt, in Jubel übergeht, der sich steigert und steigert, bis er übertönt wird von einer Stimme, die jeder in Ulster kennt, Freund und Feind: Ian Paisley ist eingetroffen und gleich ans Mikrofon getreten.
    Es ist kurz vor 21 Uhr.
    Der hochgewachsene Mann, für viele die Verkörperung des kompromißlosen protestantischen Widerstands gegen jede Veränderung des nordirischen Status quo, ist zweifellos eine eindrucksvolle Figur, wie er da vorn an der Barriere zwischen Polizei und Demonstranten steht, mit seinem weißen Haar und der großen Schärpe um die Schultern, ganz anders als der farblose Möchtegern-Franco, der vor mehr als 25 Jahren in Belfast vor meine Kamera trat - die Hartnäckigkeit, die grauenhafte Zähigkeit des Konflikts, sie sind es, die ihm Kontur gegeben haben.
    Ich kann Paisley gut erkennen von meinem Standort aus, aber auch, wie er angeschaut wird, nein, wie sie aufschauen zu ihm, dem Pächter der irdischen und der götdichen Wahrheit - wie zu einer Erscheinung.
    Er spricht nicht lange, aber was er sagt vor einer wohl 10 000-köpfigen Menschenmenge, und wie er es sagt, das muß hier ganz einfach einschlagen wie der Blitz:
    »Es ist unser Recht, durch die Garvaghy Road zu marschieren. Wenn wir diese Schlacht nicht gewinnen, ist alles verloren. Hier geht es um Leben und Tod, um Ulster oder die Republik Irland, um Licht oder Finsternis, um Freiheit oder Sklaverei. Wir werden lieber sterben als kapitulieren.«
    Die Szene birst in einem einzigen Aufschrei. Ist das der Funke im Pulverfaß?
    Von Jubel umbrandet, verschwindet Ian Paisley so rasch, wie er gekommen ist, nicht ohne zuvor das Versprechen abgegeben zu haben, mit der Genehmigung für den Marsch durch die Garvaghy Road zurückzukommen.
    Unmittelbar darauf schlägt im Abendsonnenschein die Atmosphäre in eine schwere Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizisten um, wird der erste Stein geworfen, fällt der erste Schuß. Ich höre, wie ein Offizier der RUC ruft: »Okay, die haben es gewollt, die haben den Anfang gemacht, jetzt sollen sie auch das Ende haben.«
    Was sich dann tut, nicht vorn an der schmalen Sperre auf dem Weg zur Drumcree Church, sondern an der langen Front der gepanzerten Fahrzeuge gegen das freie Feld, das muß man gesehen haben, um es zu glauben.
    2 000 Leute in Schärpen und mit hocherhobenen Fahnen in den Händen versuchen, an der Polizei vorbei den Ortsrand zu erreichen und auf die verbotene Straße zu gelangen. Sie stürzen sich auf die Polizisten, die sich ihnen mit heruntergezogenen Visieren in den Weg stellen. Schlag und Gegenschlag, Pulverrauch aus den Pistolen für Plastikgeschosse, erhobene Stöcke, an Leinen kläffende Hunde, auf beiden Seiten Verletzte, die taumelnd zu Boden sinken.
    Fürchterliche Szenen.
    Einige erreichen das Catholic Estate, das katholische Viertel, am Ende der Polizeiwagen, dessen Bewohner in ihre Häuser geflüchtet sind und hinter den Gardinen stehen, die sich bewegen.
    Weit kommen die Orange-Leute hier nicht, noch vor dem Eintritt der Drumcree Road in die Garvaghy Road werden sie zurückgeprügelt oder festgenommen, darunter Männer, die ihre Auszeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg am Revers tragen und sich heftig gegen die Brust schlagen, als sie abgeführt werden.
    Von irgendwoher schallt das Dröhnen der lambeg drums und die Melodie des »Sash« herüber, des Schärpenmarsches, aufputschende Hymne der Ulsterprotestanten. Fernsehleute, die zu filmen versuchen, werden von den Demonstranten angegriffen und zu Boden geworfen - Gesichter sollen später nicht identifiziert werden können. Ein Kameramann wird beschimpft als »Fenian loving bastard«, also als einer, der die republikanischen Iren unterstützt. Das ist keine vereinzelte Haltung unter den Orange-Leuten, vielmehr scheint eine allgemeine Feindschaft gegenüber den Medien vorzuherrschen. Ich sehe und höre, wie die

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