Mein irisches Tagebuch
freies Feld in den Rücken der abgesperrten Linie gelangen können.
Am Himmel Hubschrauber, von fern, wie im Anmarsch,Trommeln und Pfeifen, aus Lautsprechern erregte Stimmen und hinter der Polizeibarriere ein wuselndes Menschenknäuel, nahe an den uniformierten Wächtern, gestikulierend und schreiend - die ganze Szene hat etwas von Bürgerkrieg an sich.
Es ist zehn Uhr.
Ich versuche durch die Absperrung zu dringen, werde anstandslos durchgelassen und bin jetzt jenseits der Barrikade. Die Polizisten, mit Schild und Kopfschutz vor und zwischen den Sperrfahrzeugen, stehen mit versteinerten Mienen da. Die erste Reihe der Orange-Leute ist eng an sie herangerückt, fast Gesicht an Gesicht, eine unangenehme, aber beabsichtigte Nähe.
»Guckt genau hin und merkt euch die Visagen«, brüllt eine Stimme, »die RUC steht nicht mehr auf unserer Seite, und wenn wir durchbrechen würden, dann würden sie auf uns schießen.«
Aufbrandende Zustimmung, Protestschreie, drohend erhobene Fäuste. Die Polizisten, ganz junge Kerle, versuchen, ins Leere zu starren, kommen aber damit an ihren wutbebenden Landsleuten nicht vorbei. All ihre Versuche, ausdruckslos dreinzuschauen, scheitern. Es ist so klar wie der Himmel da oben -überall wären sie lieber als hier, lieber selbst dort, wo der Pfeffer wächst.
Vorbei an einem höher gelegenen Friedhof zur Rechten, gehe ich auf die Drumcree Church zu, eine große graue Kirche, an deren Turm der Union Jack befestigt ist. Überall wetterfeste Gestalten, knorrige Typen, demonstrative Entschlossenheit in der Miene.
Die geräumige Parish Hall, die Gemeindehalle, wimmelt von Menschen. Sie sitzen an langen Tischen, essen, reden, schweigen, einige liegen auf den Bänken und schlafen. Ein großer Nebenraum ist in eine Art Behelfsküche verwandelt worden. Vier Frauen kochen, bereiten Sandwiches zu, schenken Getränke ein. Ich werde gefragt, ob ich eine Suppe haben möchte, und komme so mit einer der Frauen ins Gespräch, ohne daß sie sich von ihrer Samaritertätigkeit abhalten ließe. »Wir werden hierbleiben, bis die Straße für den Marsch durch die Garvaghy Road frei sein wird«, sagt sie, eher leidenschaftslos,ganz sachlich. »Warum hindern sie uns daran? In fünfzehn Minuten wäre alles vorbei.«
An den Wänden Fotos - von der Drumcree Girls Brigade, der Drumcree Sunday School, The Boys Brigade. Eine verschworene Gemeinschaft, scheint’s.
In der Halle vor mir drei ältere Herren in voller Montur, mit Schärpen, den sogenannten Orange collarets , Orden und Insignien in den Farben des Orange-Ordens, mit Bowlerhut und Regenschirm - britischer geht’s nimmer.
Sie löffeln ihre Suppe aus Plastikbechern, es dampft daraus hervor.
Draußen wird gedreht: »We are prepared to stand«, sagt ein vierter Alter in die Kamera, auf einem Stuhl sitzend und um die Brust eine Schärpe mit der Aufschrift »City of Belfast«. Ja, der Mann sieht ganz so aus, als wäre er vorbereitet und fähig, auszuharren. Das will er, das wollen all die anderen hier, Tausende inzwischen wohl, die den Rasen, die Plätze, die Kirche füllen und deren geparkte Autos eine Schlange bilden, die sich hinter Büschen und Hecken in der Gegend verliert. »Wir gehen nicht eher nach Hause, bis...«, das ist die eiserne Parole. Ich prüfe mich und entdecke, daß ich Verständnis aufzubringen versuche für die Haltung dieser Loyalisten, für ihre Urteile und Vorurteile, ihre Wahrnehmungsmuster und ihre Ängste.
Hier soll Stärke demonstriert werden, aber überzeugend ist das nicht. Das Marschverbot, die Konfrontation mit der Polizei, die Furcht, daß die Waffenruhe eher gegen als für sie arbeitet, ja, ihre Position langsam aushöhlt, alles das muß diese nordirischen Protestanten tief verunsichert haben. Das wird bestätigt durch die Antwort, die mir einer der Orange-Männer hier auf meine diesbezügliche Frage gibt: »Wir haben immer unsere Hand freundlich ausgestreckt nach England, wir waren immer der Krone treu. Und jetzt? Jetzt werden wir wie Verräter behandelt.« Dann, wie eine unsichere Drohung: »Wir könnten aber auch ohne die britische Regierung auskommen, vielleicht sogar besser als mit ihr.«
Das klingt trotzig, verwundet, verstört. Mir kommt Stephen C.s Wort von den »cornered rats« in den Sinn, das so leicht mißverstanden werden kann und dennoch ganz offenbar ein kollektives Empfinden unter den Ulster-Protestanten charakterisiert: in die Enge getrieben zu sein, ohne Ausweg und von allen verlassen.
Ich sehe von dem
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