Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
Vom Netzwerk:
Überall aber auch junge Leute, Kinder, sogar Säuglinge auf den Armen von Müttern. Striktes Rauchverbot!
    Draußen wird der »Belfast Telegraph« verteilt. Eine Schlagzeile lautet »Drumcree at dawn«, unter einem Foto, das in Wolldecken eingehüllte Männer und Frauen zeigt, die die letzte Nacht auf dem hiesigen Friedhof zugebracht haben und gerade erwacht sind. Eine andere Balkenschrift posaunt »Flashpoint Portadown« heraus, über einer Aufnahme, die eine vieltausendköpfige Menge vor der Kulisse der Drumcree-Kirche zeigt und bestätigt, daß die Stadt tatsächlich am Vorabend des 12. Juli zu einem »Brennpunkt« der Unruhen geworden ist.
    Die Uhr zeigt 18 Uhr 30 an.
    Plötzlich wird die Stille von einem ungeheuren Dröhnen zerrissen -Trommelschläge, aggressiv, hämmernd; dazwischen Pfeifentöne, schrill und stoßhaft. Eine Gruppe junger Männer und Mädchen zieht heran, im Gleichschritt, von Jubel und Geschrei begleitet, so rücken sie nach vorn auf die Polizeibarriere zu. Gleichzeitig kommt eine Parole in Umlauf, ungewiß, von wem sie stammt, aber überall und allgegenwärtig wie ein Lauffeuer von einem dem anderen zugeraunt: »Paisley is expected!« -»Paisley wird erwartet!«
    Und nun rückt, wie zu seiner Ankündigung, eine Kapelle nach der anderen heran. Zunächst ein Harmonikazug, alle in Hemd und Schulterriemen, gelenkt von einem Vormann, der mit knappen Bewegungen Tempo und Richtung angibt, bis an die Sperre heranfiührt, dann scharf wendet und mit klingendem Spiel zurückmarschiert, schon gefolgt vom nächsten Zug. Dann, so scheint es, kommen nur noch Trommeln, Trommeln und wieder Trommeln. Der Lärm steigert sich zum Inferno, mit der Präzision einer Maschine sausen, prasseln, knattern die Schlegel auf die Haut. Die sind aus Rohr, mit einer Verdickung am oberen Ende und so elastisch, daß sie bei jedem Schlag mehrfach zurückspringen und den Effekt noch verstärken. Die Polizisten da vorn, an die möglichst nahe heranmarschiert wird, müssen längst taub sein. Denn das sind keine Musikinstrumente mehr, geht es mir durch den Kopf, sind auch keine Trommeln im üblichen Sinne: Diese riesigen lambegdrums sind - Waffen! Waffen zur Einschüchterung des Gegners und zur Selbstermutigung, Töne ausspeiende Maschinengewehre, Kriegsgeräte.
    Von dieser Akustik eingedickt, kommen jetzt irrsinnige Bilder auf. Über die Felder und Wiesen eilen stolpernd Massen von Menschen heran, ein Wald von Schärpen, zivile Heerscharen, die Ulsterfahne, rotes Kreuz auf weißem Grund, wie eine Beschwörung über den Köpfen, entschlossen und angriffslustig.
    Ich stehe auf dem erhöhten Gelände des Friedhofs mit guter Übersicht und nahe der Straßensperre. Der ganze Weg bis zur Kirche ist voll von Menschen. Aber auch auf dem Feld vor dem Kordon der Polizeifahrzeuge drängt sich eine Menge - Beschimpfungen, Schreie, drohend gereckte Fäuste. Ein tumultua-rischer Aufzug, die Situation wird brenzlig.
    Eine Frau neben mir, die herausgekriegt hat, daß ich Ausländer bin, sagt: »Wir wollen nichts, als in Frieden leben, nichts als das.«
    Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. »Wer will das nicht?« gebe ich zurück. »Aber weshalb ist dann trotzdem Streit, Unfrieden, Krieg und Tod?«
    Sie schaut mich erstaunt an, dann sagt sie: »Wegen der IRA natürlich, nur wegen der IRA.«
    Ich gehe über das Feld und setze mich hinter der Barriere an der Straßenseite ins Gras. Vor mir die gepanzerten Fahrzeuge in langer Reihe bis an den Ortsrand. Neben mir mit laufendem Motor der Wagen einer Fernsehmannschaft, die hier mit riesigen Satellitenschüsseln ihr Quartier aufgeschlagen hat. Viele Journalisten, Ausländskorrespondenten, eine Gruppe Italiener, deren Kameramann ununterbrochen dreht, obwohl sich derzeit nichts tut. Inzwischen ist es 20 Uhr geworden, aber die Sonne steht noch hoch über dem Horizont.
    Ich beobachte die Männer der Royal Ulster Constabulary, wie sie dastehen mit ihrem Knie- und Beinschutz, den Schußwesten, den behelmten Köpfen - gegen die gepanzerten Fahrzeuge gelehnt, einzeln oder in Gruppen, schweigend, miteinander redend, auf und ab schreitend. Was geht in ihnen vor? Müssen sie nicht hoffen, daß heute abend alles gutgeht, daß sie nicht anzutreten haben gegen die eigenen Leute auf höheren Befehl, im Fall eines Falles? Da kommt ein RUC-Mann an mir vorbei, lächelt mich an und sagt ohne eine Spur von Ironie: »Lovely evening, isn’t it?«
    O ja, könnte nicht schöner sein, der Abend. Bleibt er so?
    Aus

Weitere Kostenlose Bücher