Mein irisches Tagebuch
nach draußen gestellt, direkt gegenüber dem haushohen Turm aus Holz und Pappe, und die brüllen nun, von einer Band lautstark begleitet, mit »Yellow River« die erste Nummer des Programms in die erwartungsvolle Dunkelheit. In der Sandy Row wird gegessen, getrunken und geschwoft, je mehr es auf Mitternacht zugeht, desto lärmender. Aus der Umgebung flackert Feuerschein herüber, aus dieser Ecke und aus jener, als ob der ganze Distrikt brennt.
Aber der Hauptbrand soll hier sein.
Kurz vor 24 Uhr wird versucht, die Riesenfackel zu entzünden. Doch das ist leichter gesagt als getan. Gegen 19 Uhr hatte es geregnet, nein, geschüttet - Belfast in the rain, ein trauriger Anblick. Und wenn der Guß auch nicht lange angehalten hat, naß scheint das Zeug hier doch geworden zu sein. Die Fackeln fliegen, erlöschen jedoch bald. Hier und da kokeln Männer und Frauen, dilettantisch und unorganisiert; ein Jüngling gar klettert in die fragile Pyramide, kennt sich in ihr offenbar gut aus, ratscht in der Mitte Streichhölzer an,gibt aber bald resigniert auf- Feuerwerker auf irisch.
Jetzt singen Jugendliche am Rand des Stoßes loyalistische Kampflieder, schwingen die britische Fahne wie den Fetisch einer Geisterbeschwörung, trinken aus ihren Bierdosen und brechen in frenetische Schreie aus, als der Haufen endlich lodernd Feuer fängt. Um 0 Uhr 15 am 12. Juli, exakt auf den Tag 305 Jahre nach der siegreichen Schlacht am Boyne River 1690, kommen die Flammen des bonfire in der Sandy Row, Belfast-Mitte, in Fahrt, schlägt die Lohe hoch hinauf, fast bis zur Spitze, wo die Fahne der Republik Irland steckt, naß und schlaff zwar, aber noch unversehrt.
Während sich die Musik von drüben ohrenbetäubend in das Knistern der Flammen mischt, weichen die Menschen rund um das Glutinferno vor der wachsenden Hitze, langsam, wie widerwillig, die Hände vors Gesicht gehalten.
Ich bin gut sechzig Meter von dem brennenden Turm entfernt, muß aber noch weiter zurückgehen.
Jetzt hat das Feuer die Spitze erreicht, auf der immer noch die Fahne des republikanischen Irlands heil steckt, wenn auch im Aufwärtsstrom der Hitze heftig flatternd, bis das Tuch plötzlich weggebrannt ist, im Bruchteil einer Sekunde und von einem hundertfachen Aufschrei der Zuschauer ringsum hysterisch begleitet.
Durch die Luft fliegen glühende Teile, die Menschen weichen weiter und weiter zurück, auch ich. Gut hundert Meter von der brennenden Pyramide entfernt, erreicht mich ihr feuriger Atem immer noch. Es kracht und kreischt in ihr, langsam neigt sie sich, legt sich schief, und schließlich stürzt ihr oberer Teil ein. Erst viel später wankt der untere Rest, wird in dem ausgeglühten Gerüst das innere Rückgrat des Hochofens erkennbar, seine ausgetüf-telte Logistik entblößt, die den Stoß eine volle Stunde und mehr brennen ließ. Hier waren Fachleute am Wërk.
Die ganze Zeit hat dazu die Musik gescheppert, haben die Sirenen der Polizei aus der Tiefe Belfasts geheult, eine schaurige Akustik zu einer schaurigen Szenerie.
Das Straßenpflaster der Sandy Row dampft von der nahen Kraterhitze, Feuchtigkeit steigt schwadig auf, ihre Nebel ziehen über den Boden. Hinter mir ein Paar, das sich selbstvergessen küßt, wobei er nicht versäumt, eine geöffnete Bierdose kräftig mit der Linken zu umklammern, ehe beide nach der Melodie von »Pussycat«, unvermittelt und ohne von Mund zu Mund zu lassen, in geradezu akrobatische Tanzschritte verfallen. Teenager und Jüngere, Mädchen und Jungen von neun, zehn Jahren, verrenken rhythmisch die Glieder vor dem zusammengefallenen, aber immer noch heißen Haufen, stochern mit Stöcken und Stangen in der Asche, suchen, ob nicht doch irgend etwas Brauchbares erhalten geblieben ist. Wenn die Musikbox oder die Kapelle Pause macht, wechseln die Leute von der Sandy Row mühelos über in ihre protestantischen Kampflieder.
Nein, auch das war kein gutes Schauspiel, wiederhole ich vor mir selbst, nicht in dieser Situation und nicht bei den akuten Spannungen, die in den letzten Tagen aufgekommen sind. Das sieht nicht nach Verständigungswillen aus, nicht nach Kompromißbereitschaft und nicht nach dem Willen, toleranteren Lösungen den Vorzug zu geben. Ich denke daran, was die katholischen Freunde, die ich inzwischen gewonnen habe, gesagt, was sie empfunden hätten beim Anblick eines pyromanischen Spektakels, dessen Rückgrat nicht einstürzen wollte, gleichsam als Exempel für die Dauerhaftigkeit des großen Konflikts zwischen Nordirlands
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