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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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entschlossen, die Strapaze nicht weiter als bis zu Füßen des irischen Nationalheiligen zu treiben - soll doch büßen, wer da büßen will. Meine Bereitschaft dazu hat ihre Grenzen. Deshalb begnüge ich mich diesmal, was die Aufstiegsetappen betrifft, ausnahmsweise mit Fotos, die immer weitere, immer erhabenere Blicke zulassen, nach Norden über die Clew Bay hinweg und von der Spitze nach Süden bis zu den Twelve Pins von Connemara.
    Also lasse ich mich gern überholen, so von zwei weit nach vorn gebeugten Jugendlichen mit Rucksäcken, unter deren
    Bürde sie schon jetzt heimlich ächzen, oder von jenem grauhaarigen Fünfziger, der in derber Hose, mit Bergschuhen, Gamaschen, einem Beutel um die Schulter und in jeder Hand einen Metallstock, stramm aufwärts stapft.
    Wer aber meinte, damit sollte es getan sein, der irrte. Denn auf Tafeln wird genau vorgeschrieben, auf welche Weise Buße geübt werden muß, und zwar nicht erst auf dem Gipfel, sondern von Beginn an, gleich hier unten. Bei der ersten Station: siebenmal rund um den Stein herumgehen und dabei sieben Vaterunser aufsagen; bei der zweiten, etwas höher gelegenen: weitere sieben Vaterunser, aber diesmal auf den Knien. Bis hierher nehme ich die Schauplätze der Büßerordnung noch persönlich in Augenschein, weitere Stationen ersehe ich aus einer kostenlos verteilten Schrift.
    Sie verheißt, daß die Betübungen und Rundgänge gnadenlos immer beschwerlicher, die körperlichen und geistigen Mühen immer intensiver werden, bis nahe der Kapelle fünfzehnmal im Kreis herumzugehen und das Vaterunser zu beten ist, »damit sich die Absichten und Wünsche des Papstes erfüllen«.
    Ich breche die erbauliche Lektüre ab und beobachte lieber von meinem schmählicherweise anstrengungslos erreichten Standort nahe der grell gekalkten Statue in Bischofskluft, ob sich die Büßerinnen und Büßer jeden Alters und Geschlechts an die strengen Vorgaben halten oder nicht. Die Realität lehrt - eher nicht. Auch würdigen die entschlossenen Marschierer seltsamerweise den Heiligen Patrick hier vorn kaum eines Blicks, obschon er aufmerksamkeitsheischend die rechte Hand ausgestreckt hält (zwischen deren Finger heute zur Feier des Tages übrigens ein akrobatisch begabter Zeitgenosse das shamrock gesteckt hat, Irlands berühmtes Kleeblattsymbol, wenngleich aus Plastik und zehnfach größer, als die Natur es zu schaffen imstande ist). Noch weniger, ja gar nicht, halten die Pilgerinnen und Pilger an einer Tafel, auf der zu lesen steht: »Jesus mit mir, vor mir, hinter mir, unter mir, über mir, rechts und links, überall, wo ich liege und wo ich sitze.«
    Wahrscheinlich ein bißchen zuviel ständige Nähe?
    Dafür sehe ich nun weit entfernt auf den Graten, die in einer ausladenden Linkskurve zur Spitze des Croagh Patrick führen, Menschen ziehen, ameisenhaft, wie ferne Marionetten, die alle von den gleichen Fäden bewegt werden. Sie kommen so langsam voran, daß Bewegung nur über längere Zeiträume zu erkennen ist. Es heißt, die Kräftigsten bräuchten zwei bis drei Stunden, um oben anzukommen, andere aber habe es auch schon bis zu fünf Stunden und mehr gekostet, und etliche, sagt die lokale Chronik, habe auf der Hälfte des Wegs der Mut verlassen und sie zur Umkehr gezwungen. Auch habe es Fälle von Bergnot gegeben, nicht im alpinen Sinn, wohl aber als Folge von Selbstüberschätzung und ihren Folgen - heulendes Elend auf der Strecke und Zusammenbrüche unterwegs. Außerdem sollen Dunkelheit und Nacht ihr Werk getan haben bei Leuten, deren Zeitsinn schwach ausgeprägt war und die klappernd, zitternd und ganz ohne vorherige Bußabsicht bis zur Morgendämmerung auf dem Gipfel auszuharren hatten. Sozusagen unfreiwillige Nachahmer des Heiligen Patrick, aber nun mit einer ungefähren Vorstellung davon, was ein vierzigtägiger Aufenthalt bedeutet haben muß.
    All das kann ein junges Ehepaar mit einem Mädchen und einem Jungen, Kindern im Alter von sechs und acht Jahren, nicht davon abhalten, sich auf die lange Tour zu machen, versehen mit Straßenschuhen, Picknickkörben und einer Fröhlichkeit, die sich auch von meiner völlig unangebrachten Intervention aus purer Sorge um die Kinder nicht eindämmen läßt. Im Gegenteil, mir wird strahlend mitgeteilt, der Aufstieg sei schon der zweite - der erste habe im vorigen Jahr stattgefunden, und das bei noch weit schlechterem Wetter. Das einzige Kopfzerbrechen, das Vater und Mutter sich zu machen scheinen, so ergibt unser Gespräch, ist die

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