Mein irisches Tagebuch
erkunden, also weiter westwärts.
Vor Cashel wieder wahre Rhododendronwälder, leuchtendes Ginstergelb, die Wohltat des Golfstroms bis hier hinauf spürbar. Üppige, mediterrane Vegetation, Wiesen voller Blumen, Weiden mit blaubepunkteten Schafen, unberührte Moorflächen und weite Torffelder, auch hier maschinell gestochen und deshalb anzusehen wie ein blanknasser, zehntausendfach parzellierter Sumpfrücken.
Durch Keel. Draußen auf See ein Riff, Bill Rocks, wie der Finger eines einsam Ertrinkenden in der Wasserwüste des östlichen Atlantik. Auf dem Gipfel des Croaghaun (671 Meter) eine dunkle Wolke; über die ganze Gegend verstreut Häuser, jedes für sich, mit weißen Fassaden und grauen Schieferdächern; der Paß höher und höher, schmaler und schmaler, je mehr es auf Moyteoge Head zugeht. Tief unten eine Bucht mit hellem Strand, rechts der Straße, bemoost, weißbesteint, die Flanken des Croaghaun, von denen herab über mächtige Felsbrocken ein wilder Gebirgsbach sprüht und tosend durch einen dreiröhrigen Tunnel unter der Straße hin dem Meer zuströmt. Vor der Küste dümpelt ein Fischerboot, davor ein zerbrechlicher Kahn, der bedrohlich schwankt - ein Mann in einem Anzug mit greller Warnfarbe hat stehend eine Angel ausgeworfen.
Ich bin an einem der westlichsten Punkte des Atlantic Drive. Jetzt zurück über Keel bis zum Lake Annascaddy, kurz dahinter auf die Straße nach Norden, vor dem Slievemore schließlich abgebogen in Richtung Doogort - und dann stehe ich vor der Heinrich Böll Cottage.
Erster Eindruck: eine Idylle - weiß und versteckt liegt das Haus da. Hinter einem rotgestrichenen Tor mit zwei Pfosten, auf denen je eine Kugel von gleicher Farbe sitzt, rankt wie ein stummer, aber gefährlicher Wächter ein riesiges Gewächs auf, das Hunderte von Blattsicheln hochreckt, während auf der anderen Seite des Grundstücks, gleichsam in mildernder Absicht, ein Bach so raunend und murmelnd fließt, wie es sich keine Phantasie romantischer ausdenken könnte. Von hier aus ist weit vorn, an der Bucht von Doogort, der Atlantik zu sehen.
Das Tor ist offen, die Türen des Hauses sind es ebenfalls, obschon ein kurzer Gang durch die Räume zeigt, daß derzeit hier niemand wohnt. Es gibt nicht die geringsten Utensilien, die auf einen Besucher schließen lassen. Ich fühle Wärme aufkommen, es wird Vertrauen geschenkt, Ehrlichkeit vorausgesetzt. Mir kommen die irischen Stimmen in Erinnerung, die erklärten, daß sie weder ihre Autos abschlössen noch nachts oder auch nur tagsüber die Haustüren zusperrten - niemals. So sei es immer gewesen und sei es noch. Allerdings, diese Leute wohnten nicht in Städten, sondern auf dem Land. Und hier bin ich auf dem Land.
Auf deutsch und englisch lese ich: »Heinrich Böll Cottage. Dies ist ein privater Ort, bitte respektieren Sie die Ruhe der Gäste und Künstler, die hier für einige Wochen leben und an ihren Werken arbeiten. Danke.«
Längst ist das Haus von der Böll-Stiftung in Köln zum Aufenthalts- und Erholungsort für ausgesuchte Personen gemacht worden, seit Jahrzehnten schon, jetzt aber ist niemand hier. Also komme ich mir wie ein Eindringling vor und gestehe eine Benommenheit, die während dieses ersten Besuches auch nicht weichen und meine Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen wird.
Ich schaue mir die Zimmer an, will sie zählen, beginne - ein Schlafzimmer, die Küche, ein Wohnzimmer mit Kamin -, unterbreche dann aber den Rundgang. Über dem Kamin ein Bild »Heinrich Böll -1917 - 1985«, daneben ein Zitat aus einer Frankfurter Vorlesung von 1964: »Die Urbanität eines Landes läßt sich daran erkennen, was in seinem Abfall landet, was an Alltäglichem, noch Brauchbarem, was an Poesie weggeworfen, der Vernichtung für wert erachtet wird.«
Eine Mahnung, auch an die Besucher.
Weiter, nun nach dem Text meines Bandgeräts: »Ein Flur, links davon ein leeres Zimmer mit verschlossenem Kamin, geradeaus Badezimmer und Toilette, dann eine Stufe runter. Abermals Zimmer mit Kamin, Bücherbord, weiß gestrichen. Noch ein Schlafzimmer mit zwei Betten und noch ein Kaminzimmer, in dem ein Fahrrad steht, Bänke, Korbsessel. Draußen auf dem Hof ein Tisch, zwei Stühle dagegen geklappt. Es wohnt hier niemand in dem Haus, aber die Türen sind geöffnet. Hurra!«
Ich verlasse das Grundstück, besteige meinen alten Ford und fahre die Straße nach Doogort hinunter, zum Post Office. Das ist geschlossen - angeblich komme ich nach 18 Uhr. Daß danach hier nichts mehr
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