Mein irisches Tagebuch
geht, steht nirgends vermerkt, sondern wird mir bereitwillig mitgeteilt von zwei jungen Männern, die die Fassade des Postamts anstreichen. Es ist drei Minuten vor 18 Uhr. Morgen früh um 6 Uhr, sagen die beiden Maler, wird wieder geöffnet.
Ich hatte ohnehin nicht viel Hoffnung, zu finden oder in moderner Variante wieder anzutreffen, was Heinrich Bölls »Irisches Tagebuch« mir so unvergeßlich suggeriert hatte in der Erzählung »Das neunte Kind der Mrs. D.«: nämlich einen »jener spröden, fast stummen Flirts, wie sie nur bei glühender Liebe und fast krankhafter Schüchternheit möglich sind«.
Und das geht so: Siobhan, siebzehn und mit den »Augen der Vivien Leigh«, versieht Dienst im Postamt (von Doogort? Ich weiß es nicht, nehme es aber einfach mal an, auch weil es egal ist, wo in Irland sich die Szene abspielt).
Das Mädchen vermittelt Ferngespräche, zahlt aus, nimmt Einzahlungen entgegen, setzt Siegel mit der irischen Leier auf große Briefumschläge, bedient den Klappenschrank und wird dabei beobachtet von einem »Jüngling mit baumelnden Beinen auf der Posttheke«. Der sagt zu Siobhan: »Schönes Wetter, nicht wahr?«
Und sie antwortet: »Ja«, froh, daß der Klappenschrank brummt.
Eine Situation, die sich bis zur Unerträglichkeit verdichtet bei dem Versuch, aus dem Gefängnis erotisch motivierter Sprachlosigkeit auszubrechen.
Er: »Wunderbares Wetter, nicht wahr?«
Sie: »Wunderbar.«
Dieses verzweifelte Suchen in der Gewißheit, nichts zu finden, was erlösen könnte aus der Not der Geschlechter.
Er, diesmal mit fast brechender Stimme: »Fabelhaftes Wetter, wie?«
Sie, mit den Augen der Vivien Leigh, die ihre schreckliche Anziehungskraft ausmachen: »Ja, fabelhaft!«
Wer macht das dem Autor in dieser Zärtlichkeit, Atemlosigkeit und Verständnistiefe nach?
Es hätte wohl auch bei noch geöffnetem Postamt von Doogort eine Wiederholung nicht gegeben, obschon ich mittags gesehen hatte, daß dort ein junges Mädchen hinter dem Schalter saß, hübsch, jedoch nicht »mit den Augen der Vivien Leigh« (die 1936 - dies zur Erhellung jüngerer Leserinnen und Leser - bekanntlich in der Verfilmung von Margret Mitchells berühmtem Roman »Vom Winde verweht« die Rolle der Scarlett gespielt hat).
So bleibt mir nichts, als neben dem Postamt von Doogort an die Steilküste zu treten, über die Blacksod Bay zu blicken und bewundernd zuzuschauen, wie der Atlantik bei auflaufendem Wasser mit seinen nassen Tentakeln heimlich und lautlos immer tiefer ins Land hineingreift.
Meditationen auf Achill Island über Heinrich Bölls »Irisches Tagebuch«
Hat es je eine trauerdurchtränktere Frohbotschaft gegeben als in dieser Erzählung? Mit jener unerlernbaren Mischung aus Ernst und Humor, die sich der allgegenwärtigen Bedrohung des Menschen durch den Menschen stets bewußt ist und doch gleichzeitig auch das unüberwindbare Gegenmittel dazu parat hält - die Liebe?
Es mag sich inzwischen herumgesprochen haben, daß ich, aus guten Gründen, kein gläubiger Mensch bin, und mir deshalb jede Art von Theologisierung des irdischen Lebens gegen den Strich geht. Aber bei Böll, seltsam, sieht sich diese Abwehr in mir aufgehoben. Zum Beispiel, wenn ich, entzückt, über das frühchristliche Irland einen Satz wie diesen lese: »Vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in den Adantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz.«
Da gibt es nichts, da schmelze ich - Glaube hin, Glaube her - einfach so dahin.
Unfähig, seinen Gott länger als ein paar Lidschläge aus den Augen zu verlieren, muß der große Kirchenkritiker Böll ihn gleich wieder erwähnen - oder jedenfalls, was mit ihm zu tun hat.
Ob sich das nun, gleich auf den ersten Seiten des Buches, manifestiert in dem verwehten Dialog zwischen dem glaubens- und illusionslosen Mädchen und dem verstörten Priester bei der nächtlichen Fahrt über die Irische See, ob später an dem Gesicht oder an den Füßen der Jeanne d'Arc - hier sieht sich meine ablehnende Empfindsamkeit gegenüber allem Religiösen nicht berührt, immunisiert Böll mich sozusagen vor mir selbst, weil es ihm immer um den Menschen geht. Da treffe ich mich mit ihm, im Diesseits.
Auch weiterhin unfähig, an das Jenseits zu glauben, spüre ich bei der Lektüre gerade dieses kleinen Bändchens von noch nicht 140 Taschenbuchseiten fast so etwas wie Neid, daß einer wie Heinrich Böll Halt findet in einem Gott, an den ich nicht glauben kann.
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