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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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bejahend nickt, bleibt dem in der Kehle stecken, was er sagen, rufen, schreien möchte: »Rommel war nicht der Krieg - und Henry war kein Held, bestimmt kein Held, bestimmt nicht.« Heraus aber kommt dabei schließlich nichts als ein mehrfaches »Nein« über die Wellen hin.
    Im Buch heißt es weiter, Kommentar, Fazit und Prophetie zugleich: »Auf dieser kleinen Insel im Shannon, die nur selten einmal ein Fremder betritt, wird man vielleicht an dunkel glühenden Kaminen in fünfzig, in hundert Jahren noch von Rommel, vom War und von Henry erzählen. So also dringt das, was wir Geschichte nennen, in entlegene Gegenden unserer Welt ein: nicht Stalingrad, nicht Millionen von Ermordeten und Gefallenen, nicht die verstümmelten Gesichter europäischer Städte - der Name des Krieges wird Rommel heißen, Fairneß und als Beigabe Henry, der leibhaftig dort war und aus dem blauen Dunkel heraus, vom sich entfernenden Boot aus >Nein, nein, nein!< rief - ein mißverständliches und deshalb zur Mythenbildung geeignetes Wort.«
    Die Sensoren des Schriftstellers sind seine Musen. Wer hätte feinere gehabt als Heinrich Böll?
    Wie im »Porträt einer irischen Stadt«.
    Da hat ein Junge in einem Limericker Speiselokal für zwanzig Pfennig Kartoffelchips gekauft, sich nach Meinung der Wirtin aber zuviel Essig aus der Flasche darauf gekippt.
    »Du Hund, willst du mich ruinieren?«
    Was wird passieren - wird er ihr die Pommes in das wutverzerrte Gesicht werfen? Nein, tut er nicht. Nur sein Kinderbrustkorb pfeift, und das laut genug, daß der Beobachter aus Deutschland sich an das bitterste Wort des bitteren Jonathan Swift aus dem Jahr 1729 erinnert: »Man möge doch zur Linderung von Elend und Hunger einjährige irische Kinder als Braten zubereiten und verspeisen. Ein Kind reicht für zwei Mahlzeiten, wenn hungrige Freunde zu Besuch kommen. Der Leser soll erkennen, daß dieses Heilmittel nur für Irland allein und kein anderes Land gedacht ist, das jemals auf Erden war oder sein wird. Mein Plan bringt uns auch nicht in Gefahr, England zu kränken.«
    Solche Zeiten sind längst vorbei, gewiß - der Junge, aus dessen Lunge die Pfeiftöne kommen, braucht Kannibalismus nicht zu fürchten. Nur bewegt er sich in einem Dasein, das ein paar Tropfen Essig zuviel zu einem Streitpunkt und eine schallende Ohrfeige von der erhobenen Hand der Wirtin immer noch möglich macht.
    Doch dann wenden sich die Dinge, wie sie sich, behaupte ich, so glorreich nur in armen Ländern wenden können. Dick und schwammig, mit blutender Nase und Schuhen, die von der Sicherheitsnadel auf die Kordel gekommen sind, so naht der Retter. Verbeugung vor der erzürnten Wirtin, die Andeutung eines Handkusses, aus der Tasche ein Geldschein, den sie erschreckt annimmt, ehe sie die unzurückweisbare Aufforderung vernimmt: »Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, diese zehn Schilling als Bezahlung für sechs Tropfen Essig als angemessen zu betrachten?«
    Vollendete Grandezza unter Schmutzschichten, unheilbar verletzter Stolz als überlegene Geste, die ganze Großzügigkeit der alleräußersten Armut - im Mikrokosmos dieser gleichsam zum Standbild geronnenen Szene ist all das beieinander. Wer hat sie außer dem Dichter erfaßt?
    Gleichgültige schleichen vorbei, Trunkene torkeln, Kinder mit Gebetbüchern sputen sich, um noch rechtzeitig die Abendandacht zu erreichen.
    Grund genug für die Erkenntnis: Was alles an denkwürdigen Erlebnissen und Ereignissen ist doch für immer verlorengegangen, weil kein Schriftstellerauge ihnen zugeschaut hat!
     
    Das aber war zum Glück dabei, als es auf die erste Reise der Böll-Familie nach Achill Island ging - und in der Erzählung »Mayo - God help us« kann nachgelesen werden, wie beschwerlich sie war.
    Nicht nur, daß der sehnlichst erwartete Scheck aus Deutschland ausbleibt - das Irland Mitte der fünfziger Jahre kann jenseits der Wechselstuben mit Bölls (allerletzter) DM-Banknote nichts anfangen: »Fuggers Gesicht hat keinen Kurs in Mittelirland« (wie die Zeiten sich inzwischen doch gewandelt haben und mit ihnen übrigens auch der Wechselkurs: damals, 1956, kostete ein irisches Pfund 11,40 Mark, heute noch ganze 2,40).
    Aber dann tauchen auf der vertrackten Reise für die Familie -»drei übernächtigte Kinder, zwei verzagte Frauen und ein ratloser Vater« - Samariter auf, und zwar zunächst in Gestalt des Bahnhofsvorstehers von Athlone: Er läßt die sechs ohne Fahrschein weiterfahren - auf Kredit! Und das setzt sich über Roscommon und

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