Mein irisches Tagebuch
Claremorris fort durch immer neue Barmherzigkeit im Dreß der irischen Staatsbahn, wenngleich auf der Strecke die »Anzahl der auf Kredit beförderten Personen« mehrfach notiert wird, was in dem »ratlosen Vater« den Verdacht weckt, daß ihm zum Schluß eine ebensooft addierte Endsumme präsentiert werde. Ein Irrtum, wie sich beruhigenderweise bald herausstellte - die Notizen erfolgten nach geheimnisvollen Vorschriften lediglich beim Übertritt von einer Provinz in die andere.
Der Freundlichkeit und Höflichkeit des Personals tut das keinen Abbruch, im Gegenteil. Die nach der im Speisewagen ausgegebenen allerletzten irischen Geldnote nun vollends pfundlose Böll-Familie kriegt in Westport zu allem noch einen »großen Bahnhof«. Diesmal in der Person des dortigen Vorstehers, eines alten Herrn, der sich zum Zeichen seiner Würde und der Ehrerbietung vor den fast Gestrandeten einen großen ziselierten Messingstab an die Mütze hält. Zwar kann auch er nichts anfangen mit Fugger auf dem nutzlosen und einzig verbliebenen DM-Schein, der ihm um die Nase gewedelt wird - »A nice man, a very nice man« -, aber bis hierher ist man immerhin gekommen.
Und da begibt sich auch schon ein weiteres irisches Wunder, denn in einer Westporter Bank öffnet sich auf höchst fragwürdige Sicherheiten hin eine Kassenschublade, der zwei Ein-Pfund-Noten entströmen. Die werden sogleich entschlossen in Tee, Schinken, Eier, Salat, Keks und Eiskrem investiert, wobei nach bezahlter Zeche unerwarteterweise sogar noch eine halbe Krone übrigbleibt. Dafür ersteht das schmachtende Familienoberhaupt Heinrich sofort seinen geliebten Tobak samt Zündhölzern, und auch dann blinkt noch ein silberner Schilling in seiner Hand.
Und so wird denn - »God help us« - alles doch noch gut, wird »am Rande von Mayo, fast am Achill Head, von wo es bis New York nur noch Wasser gibt«, endlich das ersehnte Ziel erreicht: »Schneeweiß war das Haus gestrichen, marineblau die Fensterrahmen, im Kamin brannte das Feuer. Es gab als Begrüßungsmahl frischen Lachs.«
Herz, was willst du mehr? Zumal der Blick nach Süden über die Clew Bay hinweg auf die Berge von Connemara fällt und nach rechts auf die »letzten zwei Kilometer Europas, die noch zwischen ihm und Amerika liegen«.
Nur - Böll Cottage konnte die Bleibe nicht gewesen sein, denn die liegt im Norden der Insel und schaut auf den meist nebel- oder regenverhangenen Rücken des Slievemore.
Immer hockt neben der Fähigkeit zur Freude auch Melancholie, blitzt neben Bölls unverwüstlichem Humor auch Wehmut auf, konzentriert sich sein Blick vom Allgemeinen auf spezifisch Irisches. So auf jene Milchflasche vor der Tür eines winzigen Häuschens gegenüber an einem Limericker Morgen - sie ist nicht hineingeholt worden.
Warum nicht?
Im Kriegskind Böll, solange Zeitgenosse und Kenner des kollektiven Mangels, regt sich Neugierde. Schläft der Besteller noch? An der Garderobe hängt ein Hut, und das Licht brennt drinnen auch. Eine Nachbarin kommt hinzu: »Tatsächlich, er hat ’s Licht brennen lassen.« Schweigen, dann: »Na ja,das Licht hätte er ja ausmachen können.« Schließlich die Pointe, die irische Auflösung des Rätsels um die Milchflasche vor der Haustür gegenüber an jenem Limericker Morgen: »Nach Australien werden die ihm die Rechnung ja nicht nachschicken.«
Der Mann war abschiedslos ausgewandert.
Das Tragische und das Komische, unauflösbar miteinander verknüpft.
So auch in der Erzählung »Der tote Indianer in der Duke Street«, die Sache mit dem Polizisten, der die Nummer in den Zulassungspapieren mit der an den Autos zu vergleichen hat. Und der weiß, wie töricht, ja erniedrigend diese Beschäftigung für Landsleute ist, denen man so von vornherein eine gehörige Portion Mißtrauen entgegenbringt.
Deshalb beginnt die dienstliche Aufgabe bei dem ersten Kontrollversuch denn auch mit einer ausführlichen Betrachtung des Wetters, ehe der Dialog allmählich auf Familiäres übergeht. Der Kontrolleur, zutraulich: »Wissen Sie, an dem Tag, an dem meine Älteste ihr jüngstes Kind bekam...« Der Kontrollierte, eifrig ergänzend: »Als meine Schwiegertochter, die Frau meines Zweitältesten Sohnes, als sie ihr erstes Kind bekam...«
Nachdem das eine Weile so gegangen ist, wird der traurige Umstand erörtert, daß Catie Coughlan den Pfarrer von St. Mary erstochen hat, ohne Reue gezeigt zu haben. Dann erst gerät das Gespräch auf den toten Indianer, den eine Nonne in der Duke Street gefunden
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