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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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Gras inmitten all der toten Verfallenheit. Ich wende ihr den Rücken zu, drehe mich um und empfinde die Kulisse von Land und Meer nach Süden hin als einen geradezu schockhaften Gegensatz: über dem Sund die Majestät der Felsenküste von Corraun, in unendlicher Höhe ein augenstechend heller Himmel, der Atlantik blau und glatt wie ein Spiegel, und in der Luft ein Rauschen, wie es nur dort hörbar wird, wo ein großes Wasser endlich gegen festen Boden anläuft.
    In keinem Irland-Baedeker habe ich etwas gelesen über das verlassene Dorf, und auch die sonst so spontane Auskunftsfreudigkeit der Eingesessenen schien mir bei Nachfragen deutlich gedämpft, als wollte man etwas verbergen oder schäme sich des Bildes, das sich dort bietet.
    Außer mir ist niemand anwesend, und so betrete ich denn gegen ein unbestimmtes Gefühl innerer Reserve the deserted village.
    Auf Resten herabgestürzter Balken wächst dicker Moospelz; alle Türen sind raus, gähnende Eingänge; Ställe neben der Küche, Mensch und Vieh lebten eng beieinander; die Durchbrüche von einem Raum zum anderen waren niedrig, ich muß mich bücken. Es riecht nach Katzenpisse. Wenn ich spreche, hallt es, eine dumpfe, auf mich zurückrollende Resonanz der eigenen Stimme. Erschrecken, als Schwalben aus unsichtbaren Nestern auffliegen und davonflitzen.
    Es ist wie eine Befreiung aus Atemnot, als ich heraustrete und auf die Straße zurückgehe.
    Niemand weiß mehr, wann das Dorf geräumt wurde, ob plötzlich oder in Etappen, in Panik oder geplant. Eine seltsame Geschichtslosigkeit liegt über den leeren Fensterhöhlen, den porösen Mauern, dem alten Pflaster, eine gebieterische Stille von fast körperlich zu spürender Abweisung.
    Und doch wird auch ohne genauere Kenntnisse klar, was sich hier wie entkleidet darbietet, vielleicht besonders eindrucksvoll in seiner verlassenen Einheitlichkeit, aber eben doch nur ein Blatt in der Chronik jener großen Dauertragödie, die seit Jahrhunderten den Namen Auswanderung trägt und deren gruftige Hinterlassenschaft einem überall in Irland begegnet.
    Obwohl es Massenflucht aus Zwang und Not schon vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts gegeben hat - es waren der Große Hunger und seine Nachära, die in der Geschichte der demographischen Ausblutung Irlands ein neues Zeitalter einleiteten. Von ihm waren auch die Menschen am Fuß des Slievemore betroffen.
    Lange vor mir war Heinrich Böll hier gewesen - sein »Irisches Tagebuch« bezeugt es mit der Erzählung »Skelett einer menschlichen Siedlung«.
    Darin heißt es: »Dunkle Fensterhöhlen, kein Stück Holz, kein Fetzen Stoff, nichts Farbiges, wie ein Körper ohne Haare, ohne Augen, ohne Fleisch und Blut. (...) Alles, was nicht Stein war, weggefressen von Wind, Sonne, Regen und Zeit, schön ausgebreitet am düstern Hang wie zur Anatomiestunde das Skelett eines Dorfes.«
    Auch die alte Nachbarin der Bölls wußte nicht, wann das Dorf aufgegeben wurde - 1880, sie war damals ein kleines Mädchen, wohnte dort schon niemand mehr.
    Von den sechs Kindern, so weiter in der Lektüre, war nur ihr ältester Sohn Tony bei ihr geblieben. Er hütete das Vieh, und wenn er mit den Tieren von der Weide heimzog, dann sah Tony um so älter aus, je geringer die Distanz zwischen ihm und dem Beobachter wurde - sechzehnjährig aus der Ferne, dreißig an der Hausecke, fünfzig, wenn er scheu ins Fenster hineingrinste. In umgekehrter Richtung ging es, lese ich, entgegengesetzt zu: der aus der Nähe Fünfzigjährige »verwandelt sich an der Ecke in einen Dreißigjährigen, wird oben am Hang, wo er im Vorbeigehen den Esel krault, zum Sechzehnjährigen, und als er oben für einen Augenblick an der Fuchsienhecke stehenbleibt, für diesen Augenblick, bevor er hinter der Hecke verschwindet, sieht er aus wie der Junge, der er einmal gewesen ist«.
    Da klappe ich Heinrich Bölls »Irisches Tagebuch« zu und sage: »Wunderbar.«
     
    Den anderen Zeugen des Großen Hungers und seiner Folgen auf Achill Island lokalisiert Bölls »Irisches Tagebuch« folgendermaßen: »Wild und wie für den Hexensabbat geschaffen, mit Moor und Heide bedeckt, ragt der Croaghaun auf, der westlichste der europäischen Berge, zur Seeseite hin 700 Meter steil abfallend; vorne auf seinem Hang im dunklen Moorgrün ein helles kultiviertes Viereck mit einem großen, grauen Haus.«
    Davor stehe ich jetzt, an der Südküste der Insel, oberhalb von Dooagh, und lese im Böllschen Text über das Gebäude weiter: »Hier wohnte Captain Boycot, an

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