Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
sich wohl: Die Schrecken, die darin niedergelegt waren, hatte er überwunden.
    Sein leiblicher Vater hieß Heinz Dahlke. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, als sein Sohn zwei Jahre alt war. Nach einer Postkarte aus Goa gab es kein weiteres Lebenszeichen von ihm.
    1980, am 23. Dezember, hatte seine Mutter, nur mit einem langen rosafarbenen T-Shirt bekleidet, nach Einnahme eines in Wermut aufgelösten Tablettengemischs den Balkon der Zweizimmerwohnung im sechsten Stock betreten, während ihr vierjähriges Kind schlief. Vielleicht war ihr zu kalt, um sich im Leben halten zu können. Sie war eine schmale, kleine Frau mit dunklen, in Schattenrändern liegenden Augen, sehr kurzen, schwarzen Haaren und einem knabenhaften Körper. Vielleicht liebte ihr Sohn sie so sehr, weil sie etwas Kindliches hatte. Sue, wie ihr Mann sie nannte, hatte nur mühsam aus den Drogenabenteuern ihrer Jugend herausgefunden. Als sie sich in die Tiefe fallen ließ, war sie fünfundzwanzig Jahre alt.
    Der Junge wurde zu den Großeltern gegeben, die sich der Aufgabe, das unaufhörlich weinende und nachts nach seiner Mutter schreiende Kind zu behüten, nicht gewachsen zeigten.
    Einer der Sanitäter am Ort des Suizids war jener Thomas Korell gewesen, der den Jungen in der Wohnung aus dem Bett genommen, in Decken gewickelt und in seinen Armen hinuntergetragen hatte. Von seiner Schulter hinab sah der Junge die Mutter auf dem Pflaster liegen und rief nach ihr.
    Korell und seine Frau nahmen das magere Kind einige Monate später in Pflege. Er war ein ruhiger, sanfter und schüchterner Mann Ende vierzig. Zu Hause hatte er nicht viel zu sagen.
    Agnes war großknochig, weißblond, hatte keine eigenen Kinder und war dennoch vom Alltag überfordert. Wenn sie sich ärgerte, neigte sie zu Tätlichkeiten. Als Günther, der im ersten Jahr ein gefügiges Kind war, ein paar Mal, bald immer häufiger, bei Tisch von unerklärlichem Zappeln überfallen wurde, hielt sie das für Ungezogenheit und versuchte, ihn mit Schlägen ruhig zu stellen. Die Versuche ihres Mannes, sie zu beruhigen, steigerten ihren Zorn.
    Der Junge wurde nicht gefragt, ob er adoptiert werden wollte, und geriet vom Pflegling zum Sohn. Seine Pflegemutter, die ihn von nun an für ihr eigenes Kind halten durfte, weitete ihre Maßnahmen zu seinem Besten aus. Er besaß zwei Fotos seiner Mutter Sue Dahlke. Agnes nahm sie ihm weg und zerriss sie. Sie redete ihm ein, seine Mutter habe ihn nicht geliebt, denn sonst hätte sie ihn nicht allein gelassen.
    Du musst wissen, wer sie war, sie war ein durch und durch verdorbener Mensch! Und wir müssen uns sehr bemühen, dass du ein ganz anderer Mensch wirst, als deine Mutter und dein Vater waren. Du hast nämlich ihren Charakter geerbt. Aber ich kann dir helfen, ihn zu überwinden. Ich bin ja jetzt deine Mutter.
    Wann immer er sich nicht so verhielt, wie sie es von ihm erwartete, beschuldigte sie ihn, dass er seinem inneren Schweinehund nachgegeben habe, den er noch von seinen Eltern in sich trage. Er stellte sich das Ungetüm vor, das in seinem Inneren wohnte, und bekam Angst vor dem Biest in sich selbst.
    Wenn er weinte, nahm seine neue Mutter ihn auf die Knie und sprach davon, dass er diesen inneren Schweinehund in sich niederkämpfen müsse, mit aller Kraft, wie ein Ritter einen Drachen besiegt.
    Kann ich das?, fragte er.
    Natürlich kannst du das, sagte sie, jeder, der es wirklich will, kann das.
    War er beruhigt und lehnte sich an ihre Brust, schob sie ihn von ihrem Schoß und sagte: Ich habe ein viel zu weiches Herz.
    Immerhin trieb ihn Agnes Korell mit ihrer rigiden Erziehung zu einem Abitur mit hervorragendem Notendurchschnitt. Der zurückhaltende junge Mann empfing das Zeugnis der Reife, das ihm ein Stipendium einbrachte und ermöglichte, Medizin zu studieren. Er wäre gern Kinderarzt geworden. Doch nach wenigen Semestern brach er ab, begann, kleine Geschichten und Gedichte zu schreiben, frettete sich, immer knapp bei Kasse, in Wohngemeinschaften durch, half in einem Zirkus, fand als Kabelträger beim Fernsehen sein Auskommen und verdiente endlich mit dem Programmieren von Websites für Freunde und Bekannte genug, um nicht üppig, aber gut zu leben. Eine Werbeagentur beschäftigte ihn regelmäßig als Testperson für ihre Kampagnen, gelegentlich auch als freien Texter. Die Verbindung zu den Korells hatte er abgebrochen.
    Die Nachricht vom Tod seiner Pflegemutter erreichte ihn erst nach ihrem Begräbnis. Was geschehen war, wurde nie ganz geklärt. Er

Weitere Kostenlose Bücher