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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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dass sie schon längere Zeit hier saß. Zwischen ihren Füßen verlief eine Ameisenstraße. Swoboda wandte sich ab, ließ seinen Blick über den Waldboden wandern und hoffte, dort ihr Gesicht zu finden, obwohl ihm bewusst war, dass der Täter auch diesmal den Kopf seines Opfers mit sich genommen hatte. Und stärker als bei beim Anblick von Saskia Runge, die auf dem Kornmarkt in ihrem Blut gelegen hatte, fehlte ihm jetzt ein Gesicht, das er ansehen, Haar, das er berühren konnte, um wenigstens so zu tun, als könnte er trösten. Sein Herz schlug hart, er spürte den Puls in seinem Hals und wartete auf den Hörsturz. Nichts geschah.
    In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er all die Jahre als Kriminalhauptkommissar, in denen er einige Leichen gesehen und Todesnachrichten an die Lebenden überbracht hatte, immer mit Gesichtern gelebt hatte. Oft waren sie verletzt, misshandelt, zerstört, aber auch in ihrem Schmerz noch kenntlich gewesen.
    Hier hatte er es mit einem Täter zu tun, der ihm die Gesichter vorenthielt. Und damit die Möglichkeit, den Toten zu begegnen und ihnen zu versprechen, dass er ihre Mörder finden werde.
    Er konnte fühlen, wie ihn eine ohnmächtige Wut ergriff, und er wusste, dass seine Zweifel an sich selbst Teil dieser Wut waren.
    Wer war er denn? Ein mäßig erfolgreicher Künstler, der zugesagt hatte, das Himmelfahrtsfenster in der Aegidiuskirche zu gestalten; ein Ex-Kommissar, der sich in widerwärtige Fälle verwickeln ließ; ein hilfloser Mann am Ende seines sechsten Jahrzehnts, der Angst vor dem Alter hatte und meinte, er müsse noch einmal der ganzen Welt beweisen, wie großartig seine Nase war.
    Aber der Künstler Swoboda wollte genau das nicht. Der wusste nur, dass er die Auferstehung jetzt nicht aus zwei, sondern aus drei Farbgründen entwickeln musste, wollte er den Opfern gerecht werden.
    Er stöhnte leise.
    Als er sein Telefon aus der Ärmeltasche zog und seine alte Dienststelle anrief, ging er ein paar Schritte zur Seite und drehte der sitzenden Leiche den Rücken zu, als gehöre es sich nicht, in ihrer Nähe über ihren Tod zu sprechen.

    Seit Freya ihn am Abend jenes Tages, als der Bericht über den Skelettfund im Fischerhaus erschienen war, zurückgewiesen hatte, versuchte Korell, seiner autobiografischen Dichtung Road of My Life diese Erfahrung hinzuzufügen. Mit dem Titel wollte er sich dem amerikanischen Beat-Dichter Jack Kerouac an die Seite stellen, dessen autobiografischen Roman On the Road aus den frühen Fünfzigerjahren er bewunderte.
    Das inzwischen knapp hundert Seiten lange Gedicht wuchs fast jeden Tag, manchmal um eine Seite, manchmal um Zeilen. Doch seit jenem Abend, an dem Freya sich vor ihm abgekapselt hatte, stockte der Schreibfluss.
    Damals sollte er ihr nicht vorlesen, nichts für sie kochen, nicht mit ihr zusammen fernsehen. Sie hatte ihn fortgeschickt, als er mit den Einkäufen ins Haus zurück gekommen war und ihr vorschlug, zum Abendessen Spaghetti marinara zuzubereiten. Sie tarnte ihre Trauer mit einer so abweisenden Miene, dass er glaubte, irgendetwas falsch gemacht zu haben.
    Ich möchte allein sein, Günther.
    Er war so erstaunt gewesen, dass er keine Erklärung verlangt, nur stumm genickt hatte und die Treppe zu seiner Wohnung hinaufgegangen war. Er hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und das siebte Schreibheft seines Epos Road of My Life geöffnet. Aber die Verse wollten nicht kommen, das Papier blieb leer.
    Noch nie hatte ihm Freya eine solche Zurückweisung zugemutet. Seither versuchte er, sich darüber klar zu werden, wie er sie im Text seines Lebens deuten sollte. Er wollte sich damit der Welt als wiedergeborener Poet der Beat Generation vorstellen. Um sich der Tradition anzugleichen, schrieb er mit der Hand. Es gab deutsche Passagen, in denen er sich an Hölderlins Oden orientierte, dann wieder englische, geschrieben wie die Monologe von Kerouac oder Allen Ginsberg, und ab und zu wechselten die beiden Sprachen mitten im Satz. So nahm er von allem ein bisschen und hoffte, darin einen neuen Ton zu finden.
    Dass er als Schriftsteller noch unbekannt war, war für ihn der Beweis: Eines Tages würde man ihn entdecken und feiern, beschimpfen und preisen wie seine Vorbilder. Aus dem Nichts zum Gipfel! Immerhin erzählte er nicht weniger als das Märchen seines Lebens. Seine Gefühle. Seine Verlassenheit. Die Angst seiner Kindheit. Seine Flucht in die Phantasie. Und seine märchenhafte Rettung durch Freya.
    Wenn er in dem Manuskript las, fühlte er

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