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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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ahnte, dass sein sanfter Pflegevater eines Tages, vermutlich aus nichtigem Anlass, seiner über Jahre angestauten Verbitterung über die Demütigungen freien Lauf gelassen hatte. Vor Gericht, wo auf Unfall mit Todesfolge erkannt wurde, hatte er eingeräumt, dass Agnes und er einander geschlagen hatten. Doch habe er seine Frau nicht zu Boden gestoßen, sie sei gestolpert und durch die Glasfüllung der Wohnzimmertür gefallen. Er habe sofort als Sanitäter gehandelt und versucht, die Blutung zu stillen und den Notarzt gerufen. Man glaubte ihm seine vergebliche Bemühung.
    Thomas Korell starb zwei Jahre später an Krebs, ohne seinen Pflegesohn Günther noch einmal gesehen zu haben, und hinterließ ihm neben dem zur Hälfte verschuldeten Reihenhaus ein gefülltes Sparbuch, das ihm ein Jahr schlendrigen Lebens ermöglichte. Endlich hatte er das Gefühl, ein Schriftsteller zu sein. Tatsächlich publizierte bald darauf ein kleiner Verlag, die bibliophile edition niehaus in Zungen an der Nelda, ein Bändchen mit seinen Naturgedichten. Ohne Honorar.
    Seit Freya ihn adoptiert hatte, legte er in freien Versen die Strecke seiner Biografie nieder. Jeden Abend las er sich einige Passagen selbst aus Road of My Life vor und eignete sich den Text auf diese Weise an. Mittlerweile konnte er etwa fünfzig Seiten davon auswendig, so, als sei er einer der russischen Poeten, die jederzeit und in beliebiger Länge ihre Werke rezitieren können. Es gab Nächte, da stand er vor dem bodenlangen Spiegel in der Tür seines Kleiderschranks, sprach sich seine Strophen vor, bildete sich ein, seine bleiche, kindliche Mutter höre ihm zu, und geriet dabei in eine rauschhafte Verzückung, aus der er nur mühsam wieder zurückfand in die Wirklichkeit.
    Vor der neuen leeren Seite im Buch seines Lebens fiel ihm schließlich ein, wie er Freyas Zurückweisung an jenem Abend erzählen konnte: Er würde zu seiner Mutter sprechen, und sie würde ihm Freyas Gründe erklären.

    Ich habe dir etwas an dem Fall verschwiegen, sagte Törring.
    [Mir wäre lieber, du hättest mir den ganzen Fall verschwiegen.]
    Swoboda saß bei offener Tür im Wagen des Kommissars quer auf dem Fahrersitz, die Füße draußen auf dem Boden. Ihm war kalt.
    Die Spurensicherer in den weißen Schutzanzügen sahen vor der Waldkulisse wie zu groß geratene Zwerge aus. Törring lehnte an der Hecktür.
    Wieso bist du hier? Du weißt, ich muss dich das fragen. Hast du was gewusst? Hast du sie gesucht? Hier geht doch kein Mensch spazieren!
    Swoboda sah zu ihm auf.
    Ich gehe nie spazieren. Ich bin auf Lichtsuche. Und hier war ein Schatten. Der passte nicht ins Bild.
    Aha.
    Der Blechsarg mit der Toten wurde an ihnen vorbeigetragen. Sie blickten ihm nach, als könnten sie ins Innere sehen. Jenseits der Stadt ging die Sonne unter. Das Restlicht ließ die weißen Kapuzen der Spurensicherer rosa leuchten.
    In geringer Entfernung rief einer der Polizisten, die das Gelände absicherten, etwas Unverständliches. Dann schrie er, und alle sahen, wie er versuchte, den Hang hinaufzurennen, aber auf dem schiebenden Laub ausrutschte. Am Kamm stand zwischen den Buchen eine Gestalt in der Dämmerung, vermutlich ein Jogger in engen schwarzen Hosen, der die Kapuze seines schwarzen Anoraks über den Kopf gezogen hatte, einen langen Köcher auf dem Rücken trug und zum Tatort herabsah. Er setzte sich langsam in Bewegung, der Polizist schrie wieder, was den Läufer offensichtlich nicht beeindruckte. Er verschwand zwischen den dicht stehenden Bäumen, und niemand konnte erkennen, ob er auf dem Kamm weiter nach Norden oder östlich auf der anderen Seite des Mahrwaldhügels ins Tal gelaufen war.
    Swoboda hatte sich zu Törring gestellt und die Szene beobachtet. Er setzte sich wieder in den Wagen und fragte:
    Was hast du mir verschwiegen?
    Wir haben den Kopf der Toten. Er lag bei dem Skelett im Fischerhaus. Übrigens steht inzwischen fest, dass es sich um die Gebeine eines Schwarzafrikaners handelt. Bin gespannt, wann es die Presse bringt. Neben den Knochen seiner Hand haben wir den Kopf der Frau gefunden. Jemand hatte ihn in ein geschnitztes kleines Boot gelegt und unter den Bohlen versteckt.
    Die Dantebarke, sagte Swoboda leise.
    Ich bin sicher, dass der Kopf zu diesem Körper gehört.
    Wer ist sie?
    Törring blätterte in seinem Notizblock. Er hatte Schwierigkeiten, den Namen auszusprechen.
    Nína Jökulsdóttir aus Akureyri, Island. Neununddreißig Jahre. Mehr wissen wir noch nicht. Der Kompass, den du gefunden

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