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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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ablesen. Er musste sich die Nuancen der Lichtverfärbung nicht auf seinem Skizzenblock notieren, den er auf seinen Wanderungen zusammen mit einem kleinen Kasten Pastellkreiden bei sich trug. Er überließ es seinen Augen, sich zu merken, was sie sahen, und es wiederzufinden, wenn er es im Atelier von ihnen verlangte.
    Ein falsches Braun auf dem Laubboden irritierte ihn, ein Fleck, der nicht zur Kunst der Natur passte. Er bückte sich und erkannte, dass es ein handtellergroßes Lederfutteral war, halbrund und von jenem Schuhbraun, das im Herbstlaub nicht vorkommt. Er hob es auf und öffnete es. Ein großer Kompass ließ sich herausziehen, solide gearbeitet, Marke Bezard Modell II, mit Spiegel im Deckel, Kimme-und-Korn-Visier im Sehschlitz, ein Profigerät, dessen Wert Swoboda zwar nicht einschätzen konnte, das ihm aber einiges über den, der es hier verloren hatte, verriet. Das war jemand, der auf die bewährte Magnetnadeltechnik setzte statt auf GPS; jemand, der Sinn für schöne alte Dinge hatte und den Verlust längst bemerkt haben musste. So ein Gerät trug man nicht aus Lust und Laune mit sich herum, und es zu verlieren, tat weh. Auf der Rückseite las er, dass es sich um ein Modell 1916/17 handelte. Erster Weltkrieg. Doch nicht seit damals im Gebrauch, offensichtlich ein Nachbau aus jüngster Zeit.
    Er sah sich um. Unwillkürlich bestimmte er die Himmelsrichtung: Sein Blick ging nach Osten, wo die Stämme nicht ganz so dicht standen wie nördlich von ihm; dort gab es eng stehende junge Buchen und Eichen, darunter dichtes Buschwerk, das etwas weiter oben am Hang in ein undurchdringlich scheinendes Gehölz aus hohen Schlehen und Feuerdorn überging. Diese Region im Mahrwald hatte ihren eigenen Namen; sie hieß seit alters her Vogelhaag und war ein ideales Nistgebiet, weil die langen Dornen Nesträuber abhielten. Hätte Swoboda mehr über die Natur gewusst als über die Kunst, er hätte jetzt die Rufe von Sperlingskauz, Zaunkönig, Neuntöter und Heckenbraunelle unterscheiden können. Denn seit er stillstand und kein Blätterrascheln mehr die Waldruhe störte, hatten sich in den Dornbüschen die Stimmen erhoben.
    Auch dort fiel zwischen der jungen Belaubung Sonnenlicht ein, und er sah hinter dem aufsteigenden Saum des Vogelhaags eine große dunkle Stelle, die nicht zu dem lichtfleckigen Dickicht gehören konnte. Was man im Präsidium seine Nase nannte, war im Grunde nur das Gespür für Passendes und Unpassendes in einem jeweiligen Zusammenhang. Hier sah er einen Schatten, der nicht von den Bäumen oder gar von Vögeln stammen konnte.
    Er steckte den Kompass ein und näherte sich dem Dornwald. Die ersten Meter konnte er mühelos ins Gebiet der Vögel eintreten, dann musste er sich duckend und ausweichend, mit den Unterarmen vor dem Gesicht, vorwärts kämpfen, bis er zu einer Stelle kam, an der zwei junge Buchenstämme aus der gemeinsamen Wurzel von unten her auseinanderstrebten und wie ein großes V gewachsen waren. Im Winkel saß ein Mensch, von dem der Rücken zu sehen war. Swoboda trat näher, einige Vögel flogen käschernd davon.
    Die Gestalt schien vornübergeneigt und mit gesenktem Kopf zu schlafen. Er starrte auf den schwarzen Wanderanorak, widerstandsfähig wie sein eigener. Wahrscheinlich handelte es sich nicht nur um einen Spaziergänger, sondern um einen waschechten Tourengeher, dem der Kompass gehörte und der den Verlust noch nicht bemerkt hatte. Swoboda räusperte sich. Der Wanderer rührte sich nicht.
    Hallo?
    Keine Bewegung. Er klatschte in die Hände, aus den Wipfeln der Schlehen stoben Vögel auf, die seine Annäherung bisher noch geduldet hatten.
    Erst jetzt sah er, dass es auf dem schwarzen Stoff der Jacke noch dunklere Stellen mit einem matten Glanz gab, und dass Fliegen sich um den Kragen sammelten. Er lief im Halbkreis um den rechten Buchenstamm herum und schützte sein Gesicht mit den Händen, die zerkratzt wurden. Als er vor dem Wanderer stand, sah er das getrocknete Blut auf den hellgrauen Bundhosen und den gelben Trekkingstiefeln. Der Waldboden vor dem Toten war offenbar gefegt worden und fast frei von Laub. Vor der Brust war das rechte Handgelenk durch braunes Klebeband mit dem Ende eines Stocks verbunden, der schräg in der Erde steckte und den sitzenden Toten aufrecht hielt. Swoboda betrachtete die Hand: Es war die einer Frau.
    Der linke Arm lag in ihrem Schoß und endete in einem blutverkrusteten Stumpf. Am Getümmel der Insekten und Maden auf dem Rest ihres Halses war abzulesen,

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