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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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sich einzuprägen, doch deutlich genug, um zu erkennen: Sie waren schlitzförmig und von seltsam vielen Falten begrenzt, als seien sie uralt. Der Journalist atmete den Rauch aus und merkte, dass ihm die Knie weich wurden. Er versuchte, kaltblütig zu wirken, ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und sagte von oben herab:
    Und womit kann ich Ihnen helfen?
    Die schwarze Gestalt streckte ihm einen großen Briefumschlag entgegen, den Herking reflexartig annahm.
    Ein Geschenk für Sie. Diesmal ist es nicht so einfach.
    Er drehte sich um und rannte die Bebelstraße hinunter, lief als Schattenriss unter dem Licht der Straßenlampen bis zur Ecke Klingerstraße, wo er verschwand.
    Herking atmete auf. Er hatte die Stimme erkannt, es war dieselbe, die ihm am Telefon die Verse über den enthaupteten Sänger Bertram dal Bornio vorgelesen hatte: Er trug getrennt sein Haupt an seinen Haaren – wie eine Weglaterne in der Hand – es stöhnte auf, als wir ihm nahe waren … Dann hatte der Kerl gelacht und gesagt: Die Hölle beginnt vor deiner Tür!
    Der Journalist fand seinen Schlüssel, betrat das Haus. Er wusste, dass er die Begegnung melden und den Umschlag, der vermutlich eine neue DVD des Mörders enthielt, sofort bei der Polizei abliefern musste. Doch er zögerte. Er schloss hinter sich die Tür und blieb im Flur stehen, ohne den Mantel auszuziehen.
    Hielt er nicht mit dem Umschlag die Chance in Händen, sein Leben zu ändern? Wenn er auch diesmal das Rätsel lösen und die entscheidenden Hinweise geben könnte, ließe sich am Ende, wenn der den Mörder gefasst war, mit Fug und Recht feststellen: Er, Wilfried Herking, hatte aufgrund seiner reichhaltigen Kenntnisse der Literatur die Aufklärung der Verbrechen überhaupt erst ermöglicht. Diese Meldung wäre natürlich eine kleine Sensation, zumindest für die Feuilletons. In den großen Zeitungen der Republik würde man seinen Namen aufmerksam lesen und sich fragen, warum ein derart kompetenter Kulturjournalist in der Provinz versauerte. Und hätte er erst in der Chefetage eines führenden Journals Fuß gefasst, müssten die zwangsläufig dort bestehenden Kontakte zu großen Verlagen ihm das Interesse an seinem Romanmanuskript eintragen, er würde sein Opernbuch vollenden, ja vielleicht erhielt sogar seine Arbeit an der Komödie neuen Schwung, denn natürlich würde er sehr bald den Dramaturgen einer großen Bühne kennenlernen …
    So träumte Herking mehrere Minuten, im Flur seines Hauses stehend, das Geschenk eines mehrfachen Mörders in Händen, von seiner bevorstehenden Karriere.

    Drei Stunden zuvor in derselben Nacht war es im Haus von Martin Paintner zu einer Begegnung der Brüder Gernot und Helmut gekommen, die für beide unerfreulich verlaufen war.
    Martin Paintner hatte ihnen angeboten, das Gespräch, das sein Vater verlangt hatte, im Salon seiner Villa an der Tuchwebergasse zu führen, einem herrschaftlichen Barockzimmer, dessen Zentrum ein Nussbaumtisch mit acht Stühlen bildete; ein wuchtiges, ovales Möbel, an dessen hinterem Ende die beiden alten Männer einander gegenübersaßen. Gernot Paintner wirkte keineswegs älter als sein jüngerer Bruder Helmut, dem man die fünfundachtzig Jahre deutlich ansah, weil er seit Langem seine äußere Erscheinung vernachlässigte: Er wohnte unterm Dach der Villa, hatte sich täglich von seiner Nichte Iris das Essen heraufbringen lassen und verbrachte seine Zeit damit, besessen von der Suche nach einer endgültigen Ordnung, in seinen Münzkästen die aberhundert Sammelexemplare von römischen Sesterzen bis zu prägefrischen Silberausgaben gültiger Zahlungsmittel zu sortieren. Er hörte kein Radio, sah nicht fern und las keine Zeitung, war ganz in seiner numismatischen Welt versunken. Es kam vor, dass er nach Stunden der Überlegung zwei Münzen den Platz tauschen ließ. An schlechten Tagen kippte er ganze Kassetten auf seinem mit Samt bezogenen Tisch aus und brütete über einem neuen Prinzip der Sortierung.
    Seine Haare hatte er seit mehr als einem Jahr nicht mehr schneiden lassen, sie hingen ihm als graugelbe Fransen um die Schultern, im Unterkiefer fehlten seit dem im Krieg erlittenen Kieferdurchschuss zwei Backenzähne, und weil durch die Verwundung die rechte Wange eingefallen und ein Teil des Oberkiefers nicht mehr vorhanden war, sah Helmut Paintners blasses Gesicht so erschreckend aus, dass sein Neffe Martin ihm, auf Bitten seiner Frau Susi, verboten hatte, zu den Mahlzeiten herunter ins Esszimmer zu kommen. Man

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