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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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einzige Auflösung des Farbgewichts an der Basis in unbegreifliche Schwerelosigkeit am Giebel und hatte das, was Swoboda von Anfang an von seinem Entwurf verlangt hatte: reißende Bewegung in die Höhe, die am oberen Fensterrand nicht aufhörte, sondern über den Eisenrand hinauf unsichtbar und unaufhaltsam weiterzufliegen schien. Wer ihr mit seiner Phantasie folgte, konnte die leichteste Farbe in sich selbst entdecken.
    Er schob die hohe Stehleiter, die sonst vom Mesner zum Reinigen und Glühbirnenaustausch benutzt wurde, Stück um Stück beiseite bis an die Kinder-Arche, weil ihn der Gitterschatten der Holme und Sprossen auf der Papierbahn störte. Dann lief er, um Abstand zu gewinnen, zur Westseite der Apsis und betrachtete von dort den Entwurf.
    Zum ersten Mal seit Monaten konnte er sich mit einem seiner vielen Versuche anfreunden, einen Farbenweg für die Auferstehung zu erzeugen. Er ging in die Knie und hockte sich hin, um die Perspektive zu wechseln. Lief dann ins dunkle Kirchenschiff und verglich die Stationen der Passion im alten Westfenster mit seiner eigenen Deutung der Himmelfahrt. Das im linken Fenster vorherrschende Blau und Rot, die traditionellen Farben in den Fensterrosen gotischer Kathedralen, hatte er, ergänzt durch tiefes Erdbraun, in seinem Entwurf am unteren Bildrand aufgegriffen, um sie in Licht aufzulösen. Die Kirche würde sich daran gewöhnen, dass ihr im Krieg zerstörtes und später durch grau getöntes Glas ersetztes Ostfenster demnächst auch Farben aufweisen würde, die man in der Zeit ihrer Erbauung noch nicht herstellen konnte.
    Swoboda setzte sich in eine Kirchenbank. Das Eichenholz fühlte sich kalt an. Er beugte sich nach vorn, legte den Kopf auf die Gesangbuchablage und kühlte seine Stirn. Jetzt spürte er die Erschöpfung, die er seit gestern überspielt hatte.
    Irgendwann würde Martina erfahren, dass er mit Michaela Bossi geschlafen hatte. Die unvermeidliche Auseinandersetzung würde folgen. Martina hatte sich beherrscht, als er ihr gesagt hatte, er wolle die Stadt verlassen. Wenn es gut für ihn war, konnte sie es ertragen. War aber eine andere Frau im Spiel, ließen sich Verletzung und Kränkung nicht unterdrücken.
    Die eine Frau würde kämpfen, die andere Ansprüche stellen, Wut, Schreie, Tränen. Bis endlich die Erschöpfung so etwas wie Besinnung zuließ. Schon oft hatte er das verursacht und ausgestanden, immer schuldig, immer mit schlechtem Gewissen und einer unbestimmten Sehnsucht nach Ruhe. Immer war er der Verletzer gewesen.
    Er hob den Kopf und sagte leise in Richtung Altar: Jedes Mal war ich das Arschloch, und jetzt bin ich es wieder, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Ich habe es satt. Ich habe mich satt. Und so einer macht ein Kirchenfenster der Auferstehung. Man fasst es nicht.
    Er hörte kurz der Stille zu, wartete nicht wirklich auf eine Antwort, wäre aber in diesem Augenblick auch nicht über eine Zustimmung erstaunt gewesen, und fühlte plötzlich die Kälte des Kirchenraums auf seinem Gesicht.

    Ausgerechnet die Straßenlaterne vor seinem Haus war defekt. Sie flackerte, ging aus, zuckte hell auf und verlosch in unregelmäßigen Intervallen.
    Wilfried Herking hatte bis Mitternacht in der Redaktion gearbeitet, sich über einige zugelieferte Texte geärgert, zwei Schlucke Wodka aus seiner Schreibtischflasche genommen und sich spät auf den Heimweg gemacht. Sein Weg führte aus der Altstadt unter der Bundesstraße hindurch zur Zungerer Neustadt, wo er in der Bebelstraße das Eckgebäude eines dreiteiligen Reihenhauses gemietet hatte.
    Vor dem Eingang suchte er im Schlüsselbund nach seinem Türschlüssel, fand ihn im Flackerlicht der Straßenlaterne nicht, der Rauch der Zigarette zwischen seinen Lippen stieg ihm in die Augen, und er sah noch weniger. Eben wollte er sich aufrichten und mit den Armen wedeln, um die Bewegungsmelder an den Lampen der Nachbarhäuser auszulösen, als sie von selbst angingen und eine Männerstimme hinter ihm sagte:
    Sie sind ein verteufelt kluger Kopf, Herking.
    Nicht, dass Herking dem nicht zugestimmt hätte, doch wenn so ein Lob in der Nacht hinter dem Rücken geäußert wurde, war es nicht angenehm. Er drehte sich um und stand einer großen, schlanken Person gegenüber, die eine Kapuzenjacke und Hosen trug und sich als Silhouette vom Laternenlicht im hinteren Teil der Straße abhob. Herking zog an seiner Zigarette. Im schwachen Schein der Glut waren vom Gesicht seines Gegenübers nur die Augen zu sehen. Zu kurz, um sie

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