Mein Ist Die Nacht
Ausmaß des Schreckens sichtbar,
denn der Innenraum des VW Eos war über und über mit Blut
besudelt. Clay hatte ein furchtbares Massaker angerichtet. Franka,
die eigentlich hart im Nehmen war, spürte, wie sich ihre Kehle
zuschnürte. Ihr wurde übel, und sie wandte sich vom Wagen
ab und blickte sich auf dem Parkplatz um. Den Platz kannte sie von
früher. Sie trat an den Waldrand und blickte in das Dickicht.
Im Unterholz knackte etwas. Wahrscheinlich ein Reh, dachte sie mit
klopfendem Herzen.
Oder war Clay noch in
der Nähe, um zu sehen, was die Polizei hier mit seinem Opfer
veranstaltete? Erleichtert atmete sie auf, als sie die scheinbar
glühenden Augen eines Tieres durch das Schwarz geistern
sah.
Franka erinnerte sich
an ein Erlebnis, das sie selber vor vielen Jahren an diesem
abgeschiedenen Ort gehabt hatte. Es schien, als verließe sie
die Gegenwart, um sich von ihrer eigenen Geschichte einholen zu
lassen.
*
An diesem Wochenende
hatte sie es geschafft: Martin, der Typ aus der Clique, auf den
alle Mädels standen, hatte sie eingeladen, mit ihm um die
Häuser zu ziehen. Ausgerechnet sie, hatte sie damals gedacht.
Ein Typ wie Martin, der jede haben konnte, doch nein, er hatte sie
gefragt!
Natürlich hatte
sie von ihm geschwärmt, denn er sah nicht nur verdammt gut aus
in seinen Röhrenjeans und dem ärmellosen Shirt, er trug
die angesagtesten Boots der Stadt. Und er war achtzehn und hatte
den Führerschein. Da das Geld für ein eigenes Auto nicht
gereicht hatte, hatte er sich an diesem Samstag den BMW seines
Vaters geliehen, einem angesehenen Geschäftsmann, der bereits
fest damit gerechnet hatte, dass sein einziger Sohn eines Tages
seine Firma übernahm. Franka erinnerte sich noch, wie sie ein
wenig ehrfürchtig in die bequemen Ledersitze des Siebener-BMW
gesunken war. Martin war gefahren wie ein junger Gott. An jeder
roten Ampel hatte er andere Fahrer zu einem illegalen Wettrennen
herausgefordert und mit den 311 PS, die der BMW unter der Haube
hatte, auch gewonnen. Franka erinnerte sich an die stampfenden
Technorhythmen, die aus der Hifi-Anlage gebrüllt und sie in
eine Art Trancezustand versetzt hatten. Nachdem sie die Talsohle
drei-, viermal überquert hatten, war Martin auf einsame
Landstraßen ausgewichen. Zu gern hatte sie es sich gefallen
lassen, dass er, während er den schweren Wagen lässig mit
der linken Hand steuerte, die rechte Hand auf ihr Knie legte.
Irgendwann war er von der Straße abgebogen in diesen
düsteren Waldweg. Sie hatten die Scheiben des Wagens
heruntergelassen, er hatte sich einen Joint gedreht und auch sie
hatte davon geraucht, während er sie befummelt hatte. Ein
kurzes Sommerkleid hatte sie damals getragen, daran erinnerte sich
Franka, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte keine
Einwände gehabt, als er ihren Rocksaum höher geschoben
hatte. Er hatte seine Lippen und Hände auf Wanderschaft
geschickt, und sie hatte es geschehen lassen.
In dieser Nacht hatte
sie auf diesem verdammten Wanderparkplatz ihre Unschuld verloren:
Sie hatten im Wagen von Martins Vater zum ersten Mal miteinander
geschlafen. Franka erinnerte sich noch an seinen triumphierenden
Gesichtsausdruck, als er ihr zeigte, wie sich die Lederlehnen der
Sitze elektrisch absenken ließen. Er war ihre erste
große Liebe gewesen, und sie hatte sich ihm hingegeben in
dieser Nacht auf genau diesem Parkplatz.
Sechzehn Jahre alt war
sie gewesen, und er ihr Märchenprinz. Doch leider hatte es
nicht lange gehalten, denn Martin hatte ein paar Tage, nachdem sie
miteinander geschlafen hatten, Schluss gemacht. Seine Liebe hatte
er ihr nur vorgegaukelt, und Franka erinnerte sich verbittert
daran, dass sie sich damals geschworen hatte, nie wieder mit einem
Mann zu schlafen, bevor sie mit ihm verheiratet war. Martin hatte
sie nicht nur fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel: Er
hatte im Freundeskreis damit geprahlt, Franka
»geknackt« zu haben. Sie hatte sich schrecklich
erniedrigt gefühlt.
Fast auf den Tag genau
ein Jahr später war Martin tödlich verunglückt: Er
war mit dem Motorrad, das ihm sein Vater gekauft hatte, vor einen
Baum gerast und war auf der Stelle tot gewesen. Sie erinnerte sich
an den Moment, als sie die Nachricht von Martins Tod bekommen
hatte. Eine Mischung aus dem Gefühl unendlicher Einsamkeit,
aus Trauer und auch aus Genugtuung hatte sie beherrscht. Er
würde keine Mädchen mehr »knacken«. Niemals
würde sie den Moment vergessen, als sie hier in diesem Wald
mit Martin ihre Jungfräulichkeit
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