Mein ist die Stunde der Nacht
Eingangstür verschwand. Eine Weile warte ich noch, dachte er. Vielleicht ist sie einfach nur spazieren gegangen.
81
DER STUHL, AN DEN ER SIE gefesselt hatte, stand an der Wand neben dem Fenster, gegenüber vom Bett. Das Zimmer kam ihr irgendwie bekannt vor. Mit wachsendem Entsetzen und dem Gefühl, sich mitten in einem Albtraum zu befinden, lauschte Jean auf die erstickten Worte, die Laura von sich gab. Sie murmelte fast ohne Unterlass, dazwischen schien sie immer wieder in Ohnmacht zu versinken. Weil sie durch den Knebel sprechen musste, hatte ihre Stimme einen unheimlichen, kehligen Ton, der sich beinahe wie ein Knurren anhörte.
Sie sprach nie seinen Namen aus, sondern sagte immer »die Eule«, wenn sie von ihm redete. Manchmal sagte sie den Satz aus der Schulaufführung auf: »Ich bin die Eule, und ich wohne in einem Baum.« Dann wieder fiel sie plötzlich in ein beunruhigendes Schweigen, und lediglich ein hin und wieder zu hörendes bebendes Seufzen zeigte Jean, dass Laura noch atmete.
Lily. Laura hatte gesagt, er werde Lily umbringen. Aber sie war in Sicherheit. Ganz bestimmt. Craig Michaelson hatte ihr versprochen, dass sie in Sicherheit war. Hatte Laura im Wahn geredet? Bestimmt war sie schon seit Samstagabend hier gefangen. Sie sagt immer wieder, dass sie Hunger hat. Hat er ihr nichts zu essen gegeben? Aber sie muss etwas gegessen haben.
Oh, mein Gott, dachte Jean, als ihr Duke einfiel, der Besitzer des Feinkostladens am Anfang der Mountain Road. Er hatte etwas von einem Teilnehmer des Klassentreffens gesagt, der regelmäßig zu ihm komme und etwas zu essen mitnehme – ihn hatte Duke also gemeint!
Sie verdrehte die Hände und versuchte, die Fesseln zu bewegen, aber sie waren zu fest geschnürt. War es möglich, dass er Karen Sommers in diesem Zimmer umgebracht hatte? Dass er Reed in West Point überfahren hatte? Hatte er Catherine und Cindy und Debra und Gloria und Alison umgebracht? Und die beiden anderen Frauen, die in dieser Woche hier in der Gegend ermordet worden waren? Samstag am frühen Morgen, dachte Jean, habe ich ihn auf den Hotelparkplatz fahren sehen, mit abgeschalteten Scheinwerfern. Hätte ich doch Sam etwas davon gesagt – vielleicht hätte er ihn dann näher unter die Lupe genommen und ihn stoppen können.
Mein Handy ist in seinem Auto, dachte Jean. Wenn er es findet, wird er es wegwerfen. Aber wenn er es nicht findet und Sam versucht, es zu lokalisieren, so, wie sie es mit dem Handy gemacht haben, mit dem Laura mich angerufen hat, dann haben wir vielleicht noch eine Chance. Bitte, Gott, bevor er Lily etwas antut, lass Sam mein Handy aufspüren.
Lauras Atemzüge verwandelten sich in keuchendes Schnaufen, sie stammelte kaum verständliche Worte: »Die Hüllen … Reinigung … die Hüllen … nein … nein … nein.«
Trotz der dunklen Jalousien drang ein wenig Licht in das Zimmer. Jean konnte die Umrisse von Plastikhüllen ausmachen, die an Kleiderbügeln an der Lampe neben dem Bett hingen. Sie sah, dass jemand etwas auf die vorderste Hülle geschrieben hatte. Was stand da? War das ein Name? War es …? Sie konnte es nicht genau erkennen.
Mit der einen Schulter berührte sie beinahe die Kante der schweren Jalousie. Sie warf sich von der einen Seite auf die andere, bis der Stuhl ein paar Zentimeter rutschte und ihre
Schulter gegen die Jalousie stieß und sie etwas vom Fensterrahmen wegbewegte.
Im eindringenden Tageslicht waren die mit dickem schwarzem Filzstift geschriebenen Wörter auf der Plastikhülle deutlich zu lesen: LILY/MEREDITH.
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JAKE KONNTE DIE ERSTE Unterrichtsstunde um acht Uhr nicht versäumen, aber gleich nachdem sie zu Ende war, ging er ins Labor hinunter. Seiner Meinung nach sahen die Abzüge der Aufnahmen, die er gestern gemacht hatte, bei Tageslicht sogar noch besser aus als gestern am späten Nachmittag unter der Lampe. Während er sie aufmerksam betrachtete, konnte er sich selbst nur gratulieren.
Der Protzschuppen in der Concord Avenue scheint wirklich jedem Betrachter verkünden zu wollen: »Seht mal her, ich bin reich«, dachte er. Das Haus in der Mountain Road bildet einen krassen Gegensatz dazu – gediegene Mittelschicht, vorstädtischer Wohlstand, jetzt zusätzlich mit einer unheimlichen Aura versehen. Gestern hatte er zu Hause im Internet nachgesehen und bestätigt gefunden, dass Karen Sommers im Eckzimmer im ersten Stock auf der rechten Seite ermordet worden war. Ich weiß, dass Dr. Sheridan im Nachbarhaus gewohnt hat, als sie hier zur Schule
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