Mein ist die Stunde der Nacht
Besichtigungstour einladen?«
Gar nicht, dachte Jean. Ich werde nie wieder hier leben. Ich will so schnell wie möglich weg von hier. Aber zuerst muss ich herausfinden, wer über Lily Bescheid weiß. Es ist nur eine Ahnung, aber ich glaube, dass dieser Mensch in diesem Augenblick in diesem Saal sitzt. Ich wünschte, das Essen wäre vorüber, damit ich mich endlich zu Alice und dem Kriminalbeamten, den sie mitgebracht hat, setzen kann. Ich hoffe nur, dass er mir irgendwie helfen kann, Lily zu finden und die Gefahr zu bannen, in der sie womöglich schwebt. Und wenn ich dann sicher bin, dass sie wohlauf und glücklich ist, möchte ich wieder in meine Erwachsenenwelt zurückkehren.
Die vierundzwanzig Stunden, die ich jetzt hier bin, haben für die Erkenntnis gereicht, dass ich das, was ich geworden bin, im Guten wie im Schlechten, nur wegen des Lebens, das ich hier geführt habe, geworden bin, und damit muss ich mich abfinden.
»Ach, ich glaube nicht, dass ich an einem Haus in Cornwall interessiert bin«, beschied sie Jack Emerson.
»Im Augenblick vielleicht nicht, Jeannie«, sagte er augenzwinkernd, »aber ich möchte wetten, dass ich schon bald ein Plätzchen für dich finden werde. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
21
BEI DIESEN DINNER-VERANSTALTUNGEN werden die Ehrengäste immer in aufsteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung nach präsentiert, dachte die Eule sarkastisch, als Laura aufgerufen wurde. Sie war die Erste, die die Medaille vom Bürgermeister von Cornwall und dem Direktor von Stonecroft erhielt.
Kleidersack und ein Köfferchen von Laura befanden sich in seinem Auto. Er hatte sie unbemerkt über die Hintertreppe und den Hinterausgang in den Kofferraum schaffen können. Zur Sicherheit hatte er die Lampe über dem Hintereingang außer Gefecht gesetzt und eine Mütze und eine Jacke getragen, die man für eine Uniform hätte halten können, falls er zufällig gesehen wurde.
Wie vorauszusehen war, sah Laura prachtvoll aus. Sie trug ein goldenes Abendkleid, welches, wie man so schön sagt, mehr von ihr sehen ließ, als es verdeckte. Ihr Make-up war perfekt. Die Brillantkette war vermutlich nicht echt, sah aber gut aus. Die Brillantohrringe dagegen mochten echt sein. Wahrscheinlich gehörten sie zu den letzten Juwelen, die sie von ihrem zweiten Ehemann geschenkt bekommen hatte. Ein bisschen Talent, unterstützt von ihrem spektakulären Aussehen, verhalfen Laura jetzt immerhin zu ein paar Minuten Ruhm. Und, so viel musste man zugeben, sie besaß wirklich ein einnehmendes Wesen – das heißt, wenn man sich
nicht den ganzen Schwachsinn anhören musste, den sie ständig von sich gab.
Jetzt dankte sie dem Bürgermeister, dem Direktor von Stonecroft und den Dinner-Gästen. »Es war wunderbar, in Cornwall-on-Hudson aufzuwachsen«, schwärmte sie. »Und die vier Jahre in Stonecroft waren die glücklichsten meines Lebens.«
Mit einem kribbelnden Vorgefühl stellte er sich den Moment vor, wenn sie zum Haus fahren würden, wenn er die Tür hinter ihr schließen und beobachten würde, wie die nackte Angst allmählich in ihre Augen kroch, den Moment, in dem sie begreifen würde, dass sie in der Falle saß.
Laura erhielt Beifall für ihre Rede, und der Bürgermeister kündigte den nächsten Ehrengast an.
Dann war endlich alles vorüber, und sie konnten aufstehen, um zu gehen. Er spürte, dass Laura zu ihm herüberschaute, aber er erwiderte ihren Blick nicht. Sie hatten ausgemacht, sich zuerst eine Weile unter die Leute zu mischen und dann jeder für sich auf sein Zimmer zu gehen, wenn die Gäste anfingen, sich zu verabschieden. Danach würden sie sich beim Auto treffen.
Die andern würden am nächsten Morgen im eigenen Wagen vom Hotel zur Gedächtnisfeier an Alisons Grab fahren und danach weiter zum Abschiedsbrunch. Bis zu diesem Zeitpunkt würde Laura nicht vermisst werden, und die Leute würden bestimmt annehmen, sie hätte genug von dem Klassentreffen gehabt und wäre vorzeitig abgereist.
»Glückwünsche sind wohl angebracht«, sagte Jean und legte ihre Hand auf seinen Arm, ein paar Zentimeter über dem Handgelenk. Dabei berührte sie die schlimmste Stelle, wo die Bisse des Hundes die Haut zerfetzt hatten. Die Eule spürte, dass Blut aus der Wunde quoll und in den Jackettstoff drang, und ihm wurde bewusst, dass der Ärmel von Jeans königsblauem Abendkleid damit in Kontakt kam.
Unter größter Anspannung brachte er es fertig, sich den stechenden Schmerz nicht anmerken zu lassen, der durch seinen Arm jagte.
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