Mein ist die Stunde der Nacht
Offenbar hatte Jean nicht bemerkt, was vor sich ging, denn sie wandte sich ab, um einen Mann und eine Frau zu begrüßen, die auf sie zugingen.
Die Eule musste an das Blut denken, das auf die Straße getropft war, nachdem der Hund ihn gebissen hatte. DNA. Es bereitete ihm Sorge, dass er zum ersten Mal ein materielles Indiz hinterlassen hatte – bis auf sein Symbol natürlich, aber das war all die Jahre über geflissentlich übersehen worden. In gewisser Weise hatte ihn ihre Dummheit erbittert, aber auf der anderen Seite war er auch froh darüber. Wenn sie erst einen Zusammenhang zwischen dem Tod der Frauen herstellten, würde es für ihn schwieriger werden, weiterzumachen. Wenn er überhaupt weitermachen würde, nach Laura und Jean.
Selbst wenn Jean bemerken würde, dass der Fleck auf ihrem Kleid von Blut stammte, würde sie keine Ahnung haben, wie es dahin gekommen war. Außerdem käme wohl kein Detektiv – nicht einmal Sherlock Holmes – auf die Idee, einen Fleck auf dem Ärmel eines Ehrengastes der Stonecroft Academy mit Blut in Zusammenhang zu bringen, das zwanzig Meilen entfernt auf der Straße gefunden worden war.
Nicht mal in hundert Jahren, sagte sich die Eule beruhigt.
22
ALS JEAN SAM DEEGAN kennen lernte, verstand sie sofort, warum Alice voller Achtung von ihm gesprochen hatte. Er sah gut aus, hatte ein kräftiges Gesicht, aus dem klare dunkelblaue Augen hervorstachen. Auch sein Lächeln und sein fester Händedruck gefielen ihr.
»Ich habe Sam von Lily erzählt und von dem Fax, das du gestern bekommen hast«, sagte Alice mit gedämpfter Stimme.
»Es ist noch eins gekommen«, flüsterte Jean. »Alice, ich hab solche Angst um Lily. Ich wäre fast auf meinem Zimmer geblieben und nicht zum Dinner erschienen. Es kostet so viel Überwindung, sich mit den Leuten zu unterhalten und gleichzeitig nicht zu wissen, in was für einer Gefahr sie schwebt.«
Bevor Alice etwas antworten konnte, zupfte jemand Jean am Ärmel, und gleichzeitig rief eine freudige Stimme: »Jean Sheridan! Mein Gott, freu ich mich, Sie zu sehen! Sie waren immer als Babysitter bei uns, als Sie dreizehn waren.«
Jean brachte ein Lächeln zustande. »Oh, Mrs Rhodeen, das ist aber schön, Sie wiederzusehen.«
»Jean, viele Leute wollen noch mit Ihnen reden«, sagte Sam. »Alice und ich werden hinübergehen und uns einen Tisch in der Cocktail-Lounge suchen. Kommen Sie einfach nach, sobald Sie können.«
Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie sich von den Gästen aus der Stadt lösen konnte, die sich an sie als kleines Mädchen erinnerten oder ihre Bücher gelesen hatten und mit ihr darüber sprechen wollten. Aber schließlich setzte sie sich zu Sam und Alice an einen Ecktisch, wo sie sich ungestört unterhalten konnten, ohne dass jemand mithören würde.
Sie tranken Sekt, den Sam bestellt hatte, und Jean berichtete von der Rose mit der Nachricht, die sie auf dem Friedhof gefunden hatte. »Sie kann noch nicht sehr lange dort gelegen haben«, sagte sie nervös. »Eigentlich kann sie nur einer der Teilnehmer unseres Klassentreffens dort hingelegt haben, jemand, der wusste, dass ich nach West Point gehen und Reeds Grab aufsuchen würde. Aber warum spielt er dieses Spiel mit mir? Warum diese vagen Drohungen? Warum sagt er nicht, aus welchem Grund er mit mir Kontakt aufgenommen hat?«
»Darf ich auch Kontakt mit dir aufnehmen?«, fragte Mark Fleischman freundlich. Er stand vor dem leeren Stuhl neben ihr, ein Glas in der Hand. »Ich habe nach dir Ausschau gehalten, weil ich noch ein letztes Glas vor dem Schlafengehen mit dir trinken wollte, Jean«, erklärte er. »Zuerst habe ich dich nicht gefunden, aber schließlich habe ich dich hier entdeckt.«
Er sah das Zögern in ihren Mienen und gestand sich ein, es nicht anders erwartet zu haben. Er hatte durchaus bemerkt, dass sie ein ernstes Gespräch führten, aber er wollte wissen, mit wem Jean zusammensaß und worüber sie sprachen.
»Natürlich, setz dich zu uns«, sagte Jean und bemühte sich, einladend zu wirken. Wie viel hatte er wohl mitbekommen?, fragte sie sich, während sie ihn Alice und Sam vorstellte.
»Mark Fleischman«, sagte Sam. »Dr . Mark Fleischman. Ich kenne Ihre Sendung und ich finde sie sehr gut. Sie geben verdammt gute Ratschläge. Besonders bewundernswert finde ich, wie Sie mit Teenagern umgehen. Sie haben wirklich eine Gabe, die jungen Studiogäste dazu zu bringen, ihre Gefühle zu äußern, ohne dass sie sich dabei unwohl fühlen.
Wenn mehr Jugendliche bereit wären,
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