Mein ist die Stunde der Nacht
sich zu öffnen und zu einer Beratung zu gehen, dann würden sie erkennen, dass sie nicht die Einzigen sind, und ihre Probleme würden ihnen nicht mehr so unüberwindbar erscheinen.«
Jean beobachtete, wie angesichts von Sam Deegans ehrlich gemeintem Lob ein Lächeln über Mark Fleischmans Gesicht huschte.
Als Junge war er so still, dachte sie. Er war immer so schüchtern. Ich hätte nie gedacht, dass er einmal als Persönlichkeit im Fernsehen landet. Hatte Gordon Recht mit der Annahme, dass Mark Psychotherapeut für Jugendliche geworden war wegen seiner eigenen Probleme nach dem Tod seines Bruders?
»Ich weiß, dass Sie hier aufgewachsen sind, Mark. Haben Sie noch Angehörige in der Stadt?«, fragte Alice Sommers.
»Meinen Vater. Er lebt immer noch in unserem alten Haus. Pensioniert, aber viel auf Reisen, wie man hört.«
Jean war verblüfft. »Beim Abendessen haben Gordon und ich darüber gesprochen, dass keiner von uns mehr Wurzeln in der Stadt besitzt.«
»Ich besitze hier auch keine Wurzeln«, sagte Mark ruhig. »Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr mit meinem Vater. Obwohl er, nachdem so viel Wirbel gemacht wurde, ganz sicher mitbekommen hat, dass dieses Klassentreffen stattfindet und ich einer der Ehrengäste sein werde, habe ich nichts von ihm gehört.«
Ein Hauch von Bitterkeit hatte sich in seine Stimme eingeschlichen, und er schämte sich deswegen. Was war in ihn gefahren, dass er zwei vollkommen fremden Menschen und Jean Sheridan seine Gefühle offenbarte? Normalerweise sollte ich es sein, der den andern zuhört – »groß, schlaksig, fröhlich, witzig und weise: Dr. Mark Fleischman«.
»Vielleicht ist Ihr Vater nicht in der Stadt«, suggerierte Alice.
»Wenn das so ist, dann verschwendet er eine Menge Strom. Gestern Abend waren die Lampen jedenfalls an.« Mark
zuckte die Achseln und lächelte. »Tut mir wirklich leid. Ich hatte nicht vor, Ihnen mein Herz auszuschütten. Ich bin in Ihre Runde hineingeplatzt, weil ich Jean beglückwünschen wollte für die Worte, die sie vorhin auf dem Podium gesagt hat. Sie war herzlich und natürlich und hat sich wohltuend abgesetzt von manch anderem Ehrengast.«
»Das gilt aber auch für Sie«, sagte Alice Sommers lebhaft. »Ich fand, dass Robby Brent völlig aus dem Rahmen fiel und dass Gordon Amory und Carter Stewart ausgesprochen bitter klangen. Aber wenn Sie schon beim Gratulieren sind, müssen Sie auch erwähnen, wie wunderbar Jeannie aussieht.«
»Nachdem Laura auch auf dem Podium stand, möchte ich bezweifeln, dass irgendjemand Notiz von mir genommen hat«, sagte Jean, die Marks unerwartetes Kompliment sehr berührt hatte.
»Ich bin sicher, du bist allen aufgefallen, und alle sind sich einig, dass du wunderbar aussiehst«, sagte Mark und erhob sich. »Ich wollte dir auf alle Fälle auch noch mal sagen, wie schön es war, dich wiederzusehen, Jeannie, falls wir morgen keine Gelegenheit haben, uns zu sprechen. Ich werde zu Alisons Gedenkfeier gehen, aber vielleicht werde ich beim Brunch nicht mehr dabei sein.«
Er lächelte Alice Sommers zu und reichte Sam Deegan die Hand. »Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Gerade habe ich ein paar Leute gesehen, die ich heute noch sprechen wollte, weil wir morgen früh vielleicht keine Gelegenheit dazu haben.« Mit langen Schritten eilte er davon.
»Ein sehr attraktiver Mann, Jean«, sagte Alice Sommers. »Und man merkt sofort, dass er eine Schwäche für dich hat.«
Mag sein, aber das war bestimmt nicht der einzige Grund, weshalb er an unseren Tisch kam, dachte Sam Deegan. Er hat uns von der Bar aus beobachtet. Er wollte wissen, worüber wir sprechen.
Und ich frage mich, warum das so wichtig für ihn war.
23
DIE EULE HATTE IHREN KÄFIG beinahe verlassen. Er war im Begriff, sich von ihr zu trennen. Stets konnte er den Augenblick spüren, an dem sich die völlige Trennung vollzog. Sein eigenes sanftes, liebevolles Ich – die Person, die er unter anderen Umständen vielleicht geworden wäre – begann, sich zurückzuziehen. Er hörte und sah sich selbst lächeln und scherzen und empfing die Wangenküsse einiger Frauen aus seiner ehemaligen Klasse.
Und dann entschwand er in die Nacht. Er spürte die samtweiche Oberfläche seines Gefieders, als er zwanzig Minuten später in seinem Wagen saß und auf Laura wartete. Er sah zu, wie sie aus dem Hintereingang des Hotels schlüpfte und sich vorsichtig umsah, um niemandem zu begegnen. Sie war sogar so schlau gewesen, sich einen Regenmantel mit Kapuze über ihr
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