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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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fester zuziehen, glaub mir.«
    Sie hatte es trotzdem versucht, und jetzt pochte der Schmerz in ihren Handgelenken und Knöcheln. Ihr Mund war ausgetrocknet. Laura versuchte, ihre Lippen zu befeuchten. Ihre Zunge berührte den rauen Stoff der Socke, die er über ihren Mund geklebt hatte, und sofort stieg ihr Magensaft in die Kehle. Wenn sie sich erbrechen musste, würde sie ersticken. O Gott, bitte hilf mir, dachte sie und versuchte panisch, die Welle von Übelkeit zu unterdrücken.
    Als er das erste Mal zurückgekommen war, herrschte im Zimmer noch schwache Helligkeit. Das musste am Sonntagnachmittag gewesen sein, dachte sie. Er hat meine Handfesseln gelöst und mir Suppe und ein Brötchen zu essen gegeben. Und ich durfte auf die Toilette gehen. Dann war er nach einer langen Zeit ein zweites Mal gekommen. Es war so dunkel gewesen, dass es sicher Nacht war. Dann musste sie den Anruf machen. Warum tut er das alles mit mir? Warum bringt er mich nicht einfach um, damit es vorbei ist?

    Ihre Gedanken wurden klarer. Als sie vorsichtig versuchte, ihre Hände und Füße zu bewegen, verwandelte sich das dumpfe Pochen sofort in stechenden Schmerz. Samstagnacht. Sonntagmorgen. Sonntagnacht. Es musste jetzt Montagmorgen sein. Sie starrte auf das Handy. Es gab keine Möglichkeit, es zu erreichen. Wenn er sie noch einmal anrufen ließ, sollte sie dann versuchen, seinen Namen zu rufen?
    Sie stellte sich vor, wie das Kissen jeden Laut ersticken würde, noch bevor sie den Namen ganz ausgesprochen hätte, wie er es auf ihre Nase und ihren Mund pressen würde und sie keine Luft mehr bekäme. Das schaffe ich nicht, dachte Laura. Nein, das schaffe ich nicht. Wenn ich darauf achte, ihn nicht zu reizen, wird vielleicht trotzdem jemand auf die Idee kommen, dass ich in Gefahr sein könnte, und sie werden versuchen, mich zu finden. Anrufe, die von Handys aus gemacht werden, kann man zurückverfolgen. Das weiß ich. Man kann herausfinden, wem das Handy gehört.
    Diese hauchdünne Hoffnung war das Einzige, was ihr blieb, und in ihrer Verzweiflung klammerte sie sich daran. Jean, dachte sie. Er hat die Absicht, sie auch zu töten. Manche Leute behaupten, man könne Gedanken projizieren. Ich werde meine Gedanken an Jean senden. Sie schloss die Augen und versuchte, sich Jean vorzustellen, so, wie sie bei dem festlichen Dinner ausgesehen hatte, in ihrem königsblauen Abendkleid. Sie begann, die Lippen unter dem Klebeband zu bewegen und seinen Namen laut zu sprechen. »Jean, er hält mich gefangen. Er hat die anderen umgebracht. Er wird uns töten. Hilf mir, Jean. Ich bin in meinem alten Haus. Such mich, Jean!« Immer wieder flüsterte sie seinen Namen.
    »Ich hab dir doch verboten, meinen Namen zu nennen.«
    Sie hatte ihn nicht kommen hören. Auch durch den Knebel hindurch zerriss Lauras Schrei die Stille des Raums, der in den ersten sechzehn Jahren ihres Lebens ihr Zimmer gewesen war.

41
    AM MONTAGMORGEN, ALS ES zu dämmern begann, fiel Jean doch noch in einen schweren, aber unruhigen Schlaf, aus dem sie dunkle, undeutliche Angstträume immer wieder für Momente herausrissen. Als sie schließlich endgültig wach wurde und auf die Uhr blickte, schrak sie zusammen, weil es schon halb zehn war.
    Sie überlegte, ob sie sich das Frühstück aufs Zimmer bringen lassen sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Sie fühlte sich in diesem Raum eingeengt. Die düsteren Farben der Wände, des Bettüberwurfs und der Vorhänge wirkten bedrückend. Sie sehnte sich nach ihrem gemütlichen Haus in Alexandria. Vor zehn Jahren hatte sie bei einer Nachlassversteigerung ein siebzig Jahre altes zweistöckiges Haus in klassizistischem Stil gekauft, das in den letzten vierzig Jahren von einem zurückgezogen lebenden Eigenbrötler bewohnt worden war. Es war heruntergekommen, verwahrlost und dreckig gewesen, aber sie hatte es sofort ins Herz geschlossen. Ihre Freunde hatten versucht, sie davon abzubringen, indem sie zu bedenken gaben, dass ein solches Unternehmen ein Fass ohne Boden sei, aber inzwischen gaben sie zu, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war.
    Hinter dem Mäusedreck, den sich ablösenden Tapeten, dem schmutzigen Teppichboden, den tropfenden Wasserhähnen und dem verdreckten Herd und Kühlschrank hatte
sie die hohen Decken wahrgenommen, die großzügigen Fenster und geräumigen Zimmer und den einzigartigen Blick auf den Potomac, der damals durch überwucherte Bäume verdeckt worden war.
    Sie musste ihre letzten finanziellen Reserven antasten, um

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