Mein ist die Stunde der Nacht
das Haus zu kaufen und das Dach neu decken zu lassen. Danach hatte sie die kleineren Renovierungen selbst erledigt, geschrubbt, gemalt und tapeziert. Sie hatte sogar die Parkettböden abgeschliffen, die unverhofft zum Vorschein gekommen waren, als sie den zerschlissenen Teppichboden entfernt hatte.
Die Arbeiten an dem Haus waren wie eine Therapie für mich, dachte Jean, als sie unter der Dusche stand, sich die Haare wusch und sich dann mit einem Handtuch abtrocknete. Es war das Haus, von dem ich geträumt habe, als ich ein Kind war. Ihre Mutter war allergisch auf Blumen und Pflanzen gewesen. Sie musste lächeln, als sie an den Wintergarten vor ihrer Küche dachte, in dem jeden Tag Blumen blühten.
Im Haus hatte sie durchweg Farben verwendet, die für sie Frohmut und Wärme ausdrückten: Gelb-, Blau-, Grün- und Rottöne. Keine einzige beigefarbene Wand, hatten ihre Freunde gefrotzelt. Ein Vorschuss auf ihren letzten Buchvertrag hatte es ihr ermöglicht, Bibliothek und Arbeitszimmer täfeln zu lassen sowie Küche und Bäder zu renovieren. Ihr Haus war ihr Hort und ihre Zuflucht, es gab ihr das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Weil es nicht weit vom Mount Vernon entfernt lag, hatte sie es scherzhaft Mount Vernon jr. getauft.
Der Aufenthalt in diesem Hotel brachte – trotz der Notwendigkeit, Lily zu finden – die schmerzhaften Erinnerungen an die vielen Jahre zurück, die sie in Cornwall gelebt hatte. Sie fühlte sich wieder wie das Mädchen, dessen Eltern in der Stadt Gegenstand allgemeinen Spotts gewesen waren.
Sie wurde daran erinnert, wie es sich angefühlt hatte, als sie ihre Liebe zu Reed entdeckte, und sie dann die Trauer
um seinen Tod vor jedermann verbergen musste. Über all die Jahre habe ich darüber nachgegrübelt, ob es falsch gewesen ist, Lily wegzugeben, dachte sie. Jetzt, wo ich wieder hier bin, fange ich an einzusehen, dass es ohne die Hilfe meiner Eltern fast unmöglich gewesen wäre, sie zu behalten und sich richtig um sie zu kümmern.
Während sie ihre Haare föhnte und bürstete, musste sie daran denken, dass Sam Deegan ihr versichert hatte, bei den Drohungen gegen Lily könne es sich auch »nur« um einen Erpressungsversuch handeln, und sie ihm Recht gegeben hatte. »Jean«, hatte er gesagt, »denken Sie doch mal nach. Gibt es auch nur einen einzigen Menschen, der einen Grund hätte, Ihnen wehzutun? Haben Sie jemals einen Job bekommen, auf den jemand anders scharf war? Haben Sie je einen Menschen richtig fies behandelt, um es mal so auszudrücken?«
»Nein«, war ihre aufrichtige Antwort gewesen.
Irgendwie hatte Sam es geschafft, sie zu überzeugen, dass der Unbekannte bald Geld von ihr fordern würde. Aber wenn es tatsächlich um Geld geht, dachte sie, dann glaube ich, dass es jemand aus der Gegend sein muss, der irgendwie erfahren hat, dass ich schwanger war, und der danach herausgefunden hat, wer mein Baby adoptiert hat. Und weil so viel Wirbel um das Klassentreffen gemacht wurde und überall bekannt war, dass ich zu denen gehörte, die ausgezeichnet werden sollten, hat dieser Mensch beschlossen, dass nunmehr der Zeitpunkt gekommen ist, um Kontakt mit mir aufzunehmen.
Als sie in den Spiegel schaute, fiel ihr auf, wie blass sie war. Normalerweise trug sie tagsüber nur wenig Make-up, aber jetzt tupfte sie ein wenig Rouge auf ihre Wangen und wählte einen Lippenstift mit etwas vollerem Ton als gewöhnlich.
Da sie gewusst hatte, dass sie eventuell ein paar Tage länger in Cornwall verbringen musste, hatte sie vorsorglich Kleidung für mehrere Tage mitgenommen. An diesem Morgen
entschied sie sich für einen preiselbeerfarbenen Rollkragenpullover und eine dunkelgraue Hose.
Ihre Entschlossenheit, etwas zu unternehmen, um Lily zu finden, hatte ihr ein wenig von dem schrecklichen Gefühl der Hilflosigkeit genommen. Sie klemmte sich Klipse an die Ohren und ging ein letztes Mal mit der Bürste durch die Haare. Dann legte sie die Bürste auf die Ablage zurück, wobei ihr auffiel, dass sie ungefähr die gleiche Größe und Form besaß wie diejenige von Lily, die ihr mit der Post zugeschickt worden war.
In diesem Augenblick fiel ihr der Name der Sprechstundenhilfe wieder ein, die in der Praxis von Dr. Connors gearbeitet hatte: Peggy Kimball.
Jean zog die Nachttischschublade auf und holte das Telefonbuch hervor. Es gab mehrere Kimballs, und sie beschloss, es zuerst mit dem Eintrag »Kimball, Stephen und Margaret« zu versuchen. Es war nicht zu früh für einen Anruf. Eine weibliche Stimme
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