Mein Jahr als Mörder
aber sie ist dann doch mitgefahren. Auf dem Tisch lag ein Zettel, den hab ich eingesteckt, hier ist er.
Grete liest: Wir fahren an den Wannsee, um uns zu ertränken. Wir dürfen Sie nicht länger gefährden. Gott beschütze Sie und auch Deutschland, da Sie eine Deutsche sind.
- Ich hab mir ja schon lange mein Teil gedacht, fährt die Hauswartsfrau fort, aber jetzt ist es raus, dass Sie hier Juden versteckt haben! Die Gestapo kam auch bald, die wollten mir andichten, dass ich was gewusst hab davon. Da hab ich aber losgezetert, kann ich Ihnen sagen! Den Zettel, den hatte ich in meiner Schürze versteckt, den haben die nicht gesehn. Also, Sie sollen sich sofort auf dem Polizeirevier melden, soll ich Ihnen ausrichten. Die sagen, Sie hätten die Todesstrafe verdient, aber weil Sie Kriegerwitwe sind, wird man vielleicht Gnade vor Recht ergehen lassen und Sie nur ins KZ schaffen. Da können Sie dann mit Ihren jüdischen Freunden Wiedersehen feiern!
Grete, bleich, ratlos, verzweifelt, fragt die Hauswartsfrau, was sie denn jetzt tun solle, und die gibt zur Antwort:
- Sie sagen mir einfach: Ich geh sofort zur Polizei, selbst wenn Sie jetzt zufällig verreisen sollten, was ich an Ihrer Stelle täte.
Grete fährt sofort zu ihrer Großmutter, die sie zu einer Freundin mitnimmt, die ein Häuschen am Rand der Stadt, irgendwo bei Grünau bewohnt. Dort bleibt sie versteckt, mehrere Monate, alles geht gut. Dann wird sie krank, schwer krank, mit heftigen Schmerzen, hohem Fieber.
Nun kommt Groscurth ins Spiel. Die Großmutter sucht verzweifelt nach einem Arzt, der kein Nazi ist. Sie spricht mit einer Bekannten, Sekretärin der Zeitschrift Erika. Die vertraut sich dem Redakteur an, Helmut Kindler, der später der bekannte Verleger wurde. Kindler kennt Groscurth, fährt sofort ins Robert-Koch-Krankenhaus nach Moabit und fragt ihn um Rat.
Der Doktor zögert keinen Moment, bespricht sich mit der Oberschwester, packt Medikamente und Spritzen ein, lädt Kindler in sein Auto und fährt los. In Grünau finden sie die Schwerkranke noch schwächer als befürchtet. Groscurth stellt fest: Gallenblasenentzündung, es muss sofort operiert werden.
Die Männer beraten mit den alten Damen. Es gibt nur eine Chance im Wettlauf mit der Zeit: einen anderen Namen, andere Papiere, möglichst vor der Einlieferung in die Klinik. Grete soll als ihre eigene Schwester auftreten, Rosa, eben aus München angereist, um ihre angeblich schwer kranke Großmutter zu besuchen, und selbst krank geworden.
Sie laden Grete in Georgs Auto, fahren mit ihr und der Großmutter nach Schöneberg, richten in deren Wohnung rasch zwei Krankenzimmer her, die Großmutter legt sich ins Bett, der Doktor bestellt den Krankenwagen. Er lässt Grete ins Krankenhaus Moabit auf seine Station einweisen, die Innere Abteilung, fährt hinterher und gibt in der Annahmestelle selber die Personalien an. Die Papiere, sagt er, würden in den nächsten Tagen nachgereicht, die seien nach Auskunft der Großmutter noch im Koffer bei der Gepäckaufbewahrung im Anhalter Bahnhof.
Eins haben sie bei ihrem Plan vergessen, die Krankenkasse. Groscurth muss sich kurzerhand entschließen, die junge Frau als Privatpatientin zu behandeln. Er deutet seinem Freund, dem Oberarzt Schlag, die Vorgeschichte der Rosa-Grete an. Den hat er schon öfter einweihen müssen, wenn jüdische Patienten unter Tarnnamen behandelt wurden. Schlag gibt Rosa-Grete ein Einzelzimmer, die Gallenblase wird operiert.
Inzwischen mobilisiert Groscurth seine Freunde und die Passfälscher, und zwei Tage nach der Operation ist der neue Ausweis fertig. Er besucht die Patientin, weiht sie ein und übergibt ihr das Dokument, das angeblich so lange im Koffer am Anhalter Bahnhof gelegen hat, zur Vorlage bei der Aufnahme.
Grete wird gesund, überlebt den Krieg, hat einige Mühe, wieder zu ihrem richtigen Namen zu kommen, und erzählt ihre Geschichte, die sich bis zu Anneliese herumspricht und heute in der Autobiographie von Helmut Kindler in einer ähnlichen Version zu finden ist.
Der erste Kreis der Hölle
Vor der Fahrt in die Weihnachtsferien war ich noch einmal bei Frau Groscurth und fragte nach Details aus dem Urteil, nach Flugblättern und Fremdarbeitern. Sie gab nur stockende, knappe Antworten, sie sperrte sich. Also war ich noch mehr gehemmt als sonst und versuchte, wenigstens etwas über sie, über ihre Prozesse der fünfziger Jahre zu erfahren.
- Nicht so stürmisch, junger Mann, wir sind noch im ersten Kreis der Hölle, bei den
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