Mein Jahr als Mörder
mehr als das Blut, sieht mehr von der Welt und verfügt vielleicht mehr als andere über das kostbare Gut der Empfindsamkeit. Drei Erfahrungen prägen ihn.
Nach dem Abitur arbeitet er ein Jahr in einer Hersfelder Maschinenfabrik, 1923, mitten in der Inflation. Er sieht Elend, Gemeinheit, Brutalität der Arbeiter, Homo homine lupus zwischen den Stanzmaschinen. Er vermisst den Sinn für Würde, den er von den Bauern kennt. Sein Resümee: Die Technik verdirbt den Menschen. Falls er hier schon Sozialist wird, Illusionen über das Proletariat hegt er keine und bleibt immun gegen den Idealismus eines Parteiglaubens.
Den zweiten Schock verdankt er den Italienern. Nach den Freiburger Semestern reist er trotz knapper Kasse nach Italien, kommt bis Bologna und Florenz, hat die Rückfahrkarte, aber bald kein Geld mehr, auch im Faschismus ist das Überleben teuer. Er überlegt: Einem Bauernsohn werden Bauern helfen-und wandert über Land. Mit ein paar Brocken Italienisch im Kopf nähert er sich den Höfen, will sich als Bauer vorstellen, um Brot und einen Schlafplatz im Heuschober bitten. Nur selten kommt er dazu, seinen Spruch aufzusagen, überall wird er abgewiesen, beschimpft, von Hunden verjagt. Er gibt nicht auf, probiert es als Mediziner, bietet seine Hilfe an, auch das bringt kein Brot: Landstreicher. Viele Tage hungert er, trinkt aus Bächen, rasiert sich im Wald, nährt sich von Früchten und Beeren. Nie hat ihm etwas so wehgetan wie dieser Hunger. Wieder in Unterhaun, bittet er seine Mutter: Schick niemals jemanden hungrig vom Hof, du weißt nicht, wie weh der Hunger tut!
Drittens der wachsende Antisemitismus an den Universitäten, vor allem in Graz und Wien, die Schikanen gegen jüdische Kommilitonen, die üblichen Geschichten, all das empört ihn. Würde, Anstand, Hilfsbereitschaft, solche Ideale reichen, um aus Groscurth einen politisch denkenden Menschen zu machen. In kleiner Runde sagt er gern: Antisemitismus gehört mit dem Tode bestraft!
Sein Lieblingsbuch übrigens soll von Sinclair Lewis gewesen sein, Arrowsmith. Die Geschichte eines Bauernsohns und Mediziners, der nach Irrwegen und falschem Ehrgeiz mit Geld, Frauen und verschrobener Forschung endlich als Retter und Helfer vieler Menschen wirkt und sogar als politischer Ratgeber geschätzt wird.
- Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist...
- Nein, ohne seine List, ohne die Kunst der Verstellung wäre er kein Mann des Widerstands geworden. Als Schüler macht er die Reifeprüfung in perfekter Täuschung. Sein Deutschlehrer ist ein fanatischer Nationalist, der nur dem gute Noten gibt, der ihm nach dem Munde redet. Wie reagiert ein aufgeweckter Junge kurz nach dem 1. Weltkrieg auf das Thema des Abitur auf satzes: «Was verdanken und was schulden wir dem Vaterland?» Georg könnte seine Meinung schreiben, ein Mangelhaft kassieren, sein Studium, seine Zukunft gefährden. Also häuft er die Standardsätze über das Vaterland auf, reiht alles brav aneinander, lässt kein Klischee aus, schreibt fast eine Parodie, was niemand bemerkt und ihm die erwünschte Note einträgt. Ohne solche Übungen hätte er weder Heß und seine Clique noch die Herren von der SS täuschen können.
Der junge Arzt erforscht das Blut, publiziert fleißig, wird Experte für Kreislauf und Stoffwechsel und an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie berufen, höher kann ein Mediziner mit 28 Jahren nicht steigen. Dort lernt er Robert Havemann kennen, eine Freundschaft auf den ersten Blick. Der Chef der beiden, Prof. Freundlich, im Frühjahr 1933 ins Exil gejagt, verschafft Groscurth im letzten Moment ein Forschungsstipendium. Bald werden auch die Assistenten des Juden aus dem Institut gedrängt. Ende 1934 beginnt Groscurth im Robert-Koch-Krankenhaus in Berlin-Moabit, das bis 1933 zu den besten Krankenhäusern des Reichs zählte, aber nach der Vertreibung von 30 der 47 Ärzte, Chef- und Oberärzte zumeist, heruntergewirtschaftet ist von der Inkompetenz der Naziärzte, vieler SA- und SS-Mediziner. An Groscurths Fähigkeiten als Internist kommen sie nicht vorbei, sie sind auf ihn angewiesen, obwohl sie ihn lange Zeit nicht befördern. Er holt Havemann zu gemeinsamen Forschungen in sein Labor. Sie sitzen im Nazinest, nach außen angepasst, tüchtig, unentbehrlich, und bauen gleichzeitig an ihrem Widerstandsnest.
- Und sie fielen nicht auf?
- Sie hatten Kunzes Kaffeesalon, davon hab ich erzählt, die Treffen der Nazigegner im Labor. Solche Freundeskreise, Nischen, Börsen für Witze
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