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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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die an diesem Gerichtshof zugelassen sind, machen alles nur schlimmer. Gestern, hat Ahlsdorff gesagt, ist ihm und den anderen Verteidigern die Anklageschrift zugestellt worden. Warum erst gestern?, hat sie gefragt. Das ist hier üblich, hat er gebrummt, zwölf Stunden vorher. Sie: Mein Mann kennt die Akte erst seit gestern? Er: Seit gestern Abend. Aber er weiß doch, was er getan hat. Sie: Wie können Sie da verteidigen? Die Sache ist sowieso eindeutig, hat er gemurmelt, es ist schon ein Privileg, dass der VGH an zwei Vormittagen verhandelt statt an einem.
    Sie möchte sich die Gesichter merken, die Brüllgesichter der Richter, die Nickgesichter der Verteidiger, die Schmissgesichter der Ankläger, doch sie rutschen immer in eins. Es gelingt ihr nicht, die sind sich zu ähnlich, Juristengesichter, Robengesichter, Nazigesichter.
    Es hat keinen Sinn, sagt sie sich, vergiss die, verlier dich nicht im Hass, es darf jetzt nur noch einen einzigen Gedanken geben: Wer könnte ihn retten, wer könnte das Wunder vollbringen? Wenigstens aufschieben das Urteil, die Vollstreckung.
    Vor den Nazis, überlegt sie, können nur die höheren Nazis schützen. Heß, die stärkste Kanone, ist nach England geflogen, sonst könnte er helfen. Also die berühmten Patienten, Staatssekretäre, Fabrikanten, Diplomaten, vielleicht noch der Heß-Bruder. Kriegswichtig ist das Zauberwort, sie müssen seine Forschungen als kriegswichtig darstellen.

Fürchtet euch nicht
    Feiertage über stehen, anstrengende Familienstunden, Mitbrummen der alten Weihnachtsmelodien, solche Kompromisse mussten sein, auch im Jahr des Aufruhrs. Es gab etwas Abwechslung, weil uns die Amerikaner den ersten bemannten Flug um den Mond pünktlich zum Fest im Fernseher servierten. Aber sonst, Familie, Tradition, das unerschütterliche Kleinstadtleben - nichts war mir fremder als das, was andere Heimat nannten. Zwischen Fachwerkwelt und Wüstenrot-Welt das gefestigte, zehnmal versicherte, religiös gepolsterte und konservativ geschnürte Leben, alles diente nur dazu, den Widerspruchsgeist zu trainieren. Den Mut, mit alldem zu brechen, hatte ich nicht. Von der politischen Mode, die Herkunft zu verleugnen, war ich nur halb überzeugt und nahm in Kauf, in Berlin als Feigling zu gelten: Der fährt Weihnachten noch zu seiner Mutter! Dabei hatte es auch seine angenehmen Seiten, sich für ein paar Tage mit Weihnachtsoratorium, Monopoly und den Schulfreunden von der Berliner Radikalität zu erholen.
    Catherine war bei ihren Eltern in Marktredwitz, bis Anfang Januar, um richtige Winterfotos zu machen, das tückische Schneelicht fangen, wie sie sagte. Darum blieb auch ich über Silvester und konnte die Mutter, die mich sonst nur drei, vier Tage wie auf der Flucht vor ihr sah, mit einem längeren Aufenthalt trösten. Die Sprachlosigkeit zwischen uns wurde trotzdem nicht abgebaut, wir bewegten uns in verschiedenen Sprachen, sie in der christlichen Bejahung, ich im Jargon der Verneinung. Gesprächen mit ihr wich ich aus. Immer hatte ich zu fürchten, sie mit einem Wort, einem Satz, einer flotten Bemerkung, die sie für radikal oder unchristlich hielt, zu verstören oder zu verletzen. Und sie: Schneller als die passenden Worte kamen ihr die Tränen. Eine Aussprache aber musste sein, sie hatte ein Recht darauf, sie zahlte für mein Studium und wagte nicht laut zu fragen: Wann bist du fertig?, bis ich sie erlöste:
    - Ein Jahr noch, es geht gut voran.
    Während ich von Fortschritten berichtete, saßen wir bei Kaffee und Stollen neben dem Lamettaglanz des Weihnachtsbaums, in den, an einem unsichtbaren Faden, eine Reihe goldener Buchstaben gespannt war: FÜRCHTET EUCH NICHT.
    Seit die Tagesschau die Störung des Weihnachtsgottesdienstes in Berlin gemeldet hatte - Studenten waren mit Plakaten wie Ihr Heuchler! in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche vorgedrungen -, zeigte sie sich noch mehr verängstigt über meine Entwicklung als sonst. Rote Fahnen, Demonstrationen, Mao-Sprüche, das war schon unerträglich, nun aber der Angriff auf den Gottesdienst, die größte denkbare Sünde. Ich versuchte zu beschwichtigen: Es seien gewiss nicht die Berliner Christen gemeint, sondern die Amerikaner, die in Vietnam eine weihnachtliche Waffenruhe verkünden für drei Tage und dann weiterbomben, schießen, töten. Das sei doch Heuchelei, oder nicht? Sie musste es zugeben, doch sie war nicht überzeugt, sie sah überall nur die Abgründe, in die ich stürzen könnte oder schon gestürzt war.
    Wegen der roten

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