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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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bedeutendere, vorbildlichere Autor sei, der «bürgerliche» Flaubert oder der «realistische» Zola. Jens hatte Zola gepriesen als das unbeholfene Neue, Christoph Flaubert als das tiefblickende Alte. Jens: Das Auto ist mir lieber als die Kutsche! Und der Konter von Christoph: Besser eine gute Kutsche als ein schlechtes Auto!
    Die Widersprüche wurden auch an diesem Abend nicht gelöst, wir kurierten die frischen Wunden mit Bier und Kickerspielen. Während Klaus und Gert zu den Spieltischen gingen, hörte ich den neusten Tratsch über die Friedenauer Dichter und beobachtete erleichtert, dass Jens und Christoph sich im Lob auf Solschenizyns Iwan Denissowitsch einig waren.
    All das gehört in mein Geständnis, weil ich an diesem Abend zum ersten Mal merkte, wie froh ich mit meinen geheimen Plänen war, die mir der Nachrichtensprecher des RIAS diktiert hatte. Ich wusste, was ich wollte. Ich musste mich nicht scheren um das Politische oder Schöne, um Bürgerlichkeit und Bewusstsein. Nein, ich brauchte keine Begriffe. Heute würde ich sagen, ich war glücklich mit dem Todesurteil. Ich hatte den Beweis, ich hatte das Motiv, und nun, zwischen den schreibenden Freunden, dachte ich: Vielleicht kriegst du auch noch den Erfolg dazu.
    Unter Ruhmsucht, das muss man uns zugute halten, litten wir nicht. Jeder suchte für sich die optimale Quadratur des Ästhetischen mit dem Politischen, der eine mit herrischem, der andere mit genialischem, der Dritte mit ironischem, der Vierte mit untertreibendem Gestus. Erfolg ohne Leistung war verpönt, der heimliche Ruhmwunsch verdächtig. Nun die unerhörte Idee: Deine gute Tat könnte eine Sensation werden, dein Buch zur Tat ebenso, im Pro-zess wirst du den Justizskandal aufrühren oder selber zum Skandal werden, fünf Jahre Gefängnis sind eine gute Investition für die Zeit danach: Du kannst nur gewinnen.
    So phantasierte ich vor mich hin, sorgsam die verbotenen Gedanken verbergend, während in einem Ohr immer wieder der Name Solschenizyn störte und das andere Ohr den Sätzen über Beggars Banquet folgte, der neuen Platte der Stones. Christoph schwärmte vom Street Fighting Man, Klaus ließ nichts auf Bob Dylan kommen.
    Hannes, vielleicht war es auch Martin, stieß mich an: Hey, warum sagst du nichts? Meistens antwortete ich auf solche Fragen: Ich hab nichts zu sagen. Diesmal, im Traum von einer glorreichen Zukunft gestört, sagte ich: Der Street Fighting Man ist müde. Die ändern lachten.
Der Arzt, der kein Blut sehen konnte
    - Wie wird ein Bauernsohn Nazigegner, ein Nazigegner Arzt der Nazis, wie kommt der als Hochverräter aufs Schafott? Wie erklärst du diese Sprünge?, fragte Catherine.
    - Es sind keine Sprünge, hätte ich gesagt, wenn ich damals so viel über Dr. Groscurth gewusst hätte wie heute. Anfängen würde ich mit dem Satz: Er konnte kein Blut sehen. Wenn geschlachtet wird, verschwindet der jüngste Sohn des Bauern vom Hof. Bolzenschuss auf den Schweinskopf, Kreuzigung des Tiers am Flaschenzug neben der Stalltür, quellende Gedärme, Äxte, die durch Knochen, Messer, die durch rohes Fleisch schlagen, das Blut in den Schüsseln und das Grinsen des Schlachters, der Eifer der ganzen Familie beim Zerlegen des eben noch lebendigen Tiers, all das hält der Junge nicht aus.
    - Musst du gar nicht so ausmalen, ich versteh schon.
    - Gut, er hat Glück und wird nicht gehänselt, dass er sich verhält wie ein Mädchen. Georg kann kein Blut sehen, mit diesem Satz schützt ihn die Mutter, Tochter eines Arbeiters. Er muss nicht mithelfen beim Blutrühren, beim Wurstmachen, kann sich drücken bei den Spielen mit Schweineohren, darf hinaus ins Dorf. Er hat Glück, er ist der Jüngste, sein älterer Bruder wird den Hof übernehmen. Keine Gefahr für das Ansehen des Vaters, des Großbauern und Bürgermeisters von Unterhaun, Heinrich Groscurth, Vorsitzender des Hersfelder Bauernvereins, Mitglied des Kreistags. Ein paar Jahre später will der Junge, der kein Blut sehen konnte, Medizin studieren. In der Familie wundern sie sich. Der Vater verkauft einen Acker, um das Studium zu finanzieren. Nach Semestern in Marburg, wo er das Blut sehen lernt, Freiburg, Graz, Wien und Berlin legt er ein sehr gutes Examen ab, wird approbiert und promoviert, alles spricht für eine glänzende Karriere.
    - Du musst keinen Lebenslauf nacherzählen, die Frage ist doch, was macht einen jungen Mediziner zu einem politisch wachen Menschen?
    - Genau da wollte ich hin! Wer kein Blut sehen kann, behaupte ich mal, sieht

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