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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Freisler-Juristen. Wenn ich da gewusst hätte, dass mir noch ein zweiter Kreis bevorsteht, der mit den Westberliner Juristen...
    Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Als spürte sie, zu weit gegangen zu sein. Ein unkontrollierter Seufzer aus der Tiefe eines kontrollierten Herzens. Das Wort Hölle hat sie, wenn ich mich richtig erinnere, nie wieder benutzt, sie neigte nicht zu Übertreibungen. Nun stand sie auf und holte, was sie sonst nie tat, einen Cognac aus dem Schrank:
    - Grusinischer!
    Auf meinen dummen oder skeptischen Blick erklärte sie:
    - Georgien! Fast so gut wie die Franzosen! Sie goss uns ein und fuhr fort:
    - Neulich hab ich dich angefahren, weil du mit Freisler anfingst. Da dachte ich, der Freisler interessiert dich mehr als Georg. Die Teufel sind immer aufregender als die Guten, das ist unser Pech. Jetzt kennst du das Urteil, jetzt kennst du
    Freisler, jetzt verstehst du vielleicht, warum ich da empfindlich bin. Es ist fast auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre her, 16. Dezember, irgendwann muss ich das ja mal rauslassen.
    Nach dem zweiten Cognac stellte sie die Flasche wieder weg und begann von der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof zu sprechen. Am nächsten Tag, vor dem Kofferpacken, habe ich notiert:
    Über Hitler ist alles gesagt, über Goebbels, über Freisler, aber es wäre noch viel zu erzählen von einer jungen Frau, dreiunddreißig Jahre, die im Saal des Volksgerichtshofs unter den Zuschauern sitzt, wenige Tage vor Weihnachten 1943. Sie versucht ihren Mann vorn auf der Bank der Angeklagten zu fixieren, bis der sie endlich wahrnimmt in den hinteren Reihen. Man hat die Ehefrauen hinter einem Trupp junger Soldaten plaziert, der Saal ist voll mit Militärs, Offiziersanwärtern. Sie muss froh sein, wenn sie über die Schulterstücke, zwischen den kurz rasierten Kinderköpfen mit Georg hin und wieder einen Blick tauschen kann. Er ist eingeklemmt auf der Bank neben den Verteidigern und den Freunden. Der Oberreichsanwalt Stark beantragt für alle die Todesstrafe. Sie hat Georg lange drei Monate nicht gesehen, nach den Erholungstagen bei den Kindern und Verwandten in Wehrda der Auftritt der Männer mit schwarzen Ledermänteln und großen Hüten in Weißenhasel, zuletzt mit Handschellen im Gestapo-Auto nach Kassel am 4. September. Schon im Nachtzug nach Berlin wurden sie in verschiedene Abteile gestoßen.
    Georg dreht sich zu ihr hin, elend, matt, geschlagen. Der Schalk Georg, der Charmeur Georg, der heiter zupackende Georg ist nicht zu erkennen. Er versucht ein Lächeln, das die Gewissheit nicht vertreibt: Die Todesstrafe ist sicher, nur ein Wunder kann uns retten. Sie lächelt zurück, mehr kann sie nicht tun. Sie darf ihn nicht umarmen, sie darf ihm nicht über die Stirn streichen, sie darf die geliebten Hände nicht berühren. Sie darf ihn nicht mit Worten ermutigen, sie darf ihn nicht verteidigen, sie darf ihre Empörung nicht herausschreien, die Arme nicht bewegen. Sie darf die Todesrichter nicht anklagen, sie muss es Glück nennen, nicht auch als Hochverräterin unter dem giftrot blendenden Hakenkreuztuch zu sitzen.
    Acht Wochen Verhöre hat sie hinter sich, in den Kellern der Prinz-Albrecht-Straße, acht Wochen eingesperrt im obersten Stockwerk des Polizeigefängnisses am Alexanderplatz. Bei Fliegerangriffen blieben die Politischen unterm Dach nah den Bomben eingeschlossen, während die Kriminellen in den Luftschutzkeller durften. Keine Spaziergänge im Hof, keine Heizung, keine Kontakte. Sie ist abgemagert, ausgehungert wie er, aber sie hat man nicht geschlagen. Sie hat nichts gewusst, sie hat fast nichts gewusst, sie hat beim Verstecken von Leuten geholfen, Lebensmittel besorgt, die Passfälschungen geahnt, hat eins der Flugblätter gesehen und Robert und Georg gesagt, dass das Wahnsinn ist, diese Angeberei. Das alles konnte sie in den stundenlangen Verhören verschweigen. Offenbar hat niemand sie belastet. Jetzt erst, an diesem Vormittag, begreift sie, wie Georg sie geschützt hat, indem er ihr nichts oder fast nichts und nur das Nötigste gesagt hat.
    Sie hat nichts von den Aktivitäten erfahren, über die Herr Freisler zetert und geifert, nichts von den weiteren Flugblättern, nichts von den anderen Juden, nichts von den Kontakten zu den Fremdarbeitern, nichts von der Verbindung zu dem Zeugen Hatschek, mit all diesen Informationen hat Georg sie verschont. Sie erschrickt, sie versteht allmählich, dass ihr Gefühl in den letzten Monaten sie nicht getrogen hat: Es war alles zu viel, die

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