Mein Jahr als Mörder
Minute, unbestechlich, Meister der Konspiration. Sie halten Juden versteckt, sie organisieren falsche Papiere, sie retten Verfolgte. Das ist ihnen zu wenig, das reicht nicht. Der Arzt hält Kontakte zu Widerstandsgruppen der Fremdarbeiter, der Chemiker sucht sie zu Kommunisten. Alle paar Tage die Treffs zu viert in der Rankestraße 19 mit Herbert und Paul in dessen Praxis oder in Herberts Wohnung unterm Dach. Oder in der Bismarckstraße bei Robert. Oder jetzt zu zweit bei Georg in der Ahornallee. Nie lässt es nach, das Gefühl: Man müsste viel mehr tun.
Nach dem Lachen ist es still. Georg ahnt, welche Zeichen Robert setzen will. Er ist müde, er schwankt. Er liebt ihn, seinen jüngeren Freund, den politischen Kopf, den impulsiven, feurigen Bekenner, den bescheidenen Kämpfer. Roberts Schwäche ist, dass er in großen Dimensionen denkt. Georg, der Arzt, sieht die einzelnen Wunden, den Schmerz in jedem Menschen. Er will möglichst vielen helfen, Robert angesichts der bescheidenen Mittel eher den politischen Kämpfern. Dieser Konflikt darf die Freunde nicht trennen, die Gruppe nicht spalten.
Schwer vorstellbar, dass zwei so besonnene Männer sich von einer kleinen Maschine verführen lassen. Eine Maschine, die zum Sprengsatz werden könnte für die Diktatur, eine Maschine, mit der die Wahrheit gesagt und verbreitet werden kann, eine Hoffnungsmaschine zur Stärkung und Vergrößerung der Widerstandsgruppe. Ein Geschenk des Himmels, ein Wunder, das nur daraufwartet, aus dem Abstellraum geholt zu werden, aus Havemanns Labor im Pharmakologischen Institut. Da lockt es wie eine Sirene: Nehmt mich, bedient mich, niemand hilft euch so gut wie ich!
Georg kennt das Geheimnis, er hat dazu gesagt: Großartig, aber es ist noch zu früh. Vielleicht verflucht er im Stillen die Maschine, weil sie der Gruppe mehr schaden kann als der Diktatur. Das fürchtet auch Robert, aber nun sieht er, bei aller Vorsicht, eher die Vorteile.
Ein halbes Jahr nach Stalingrad drängt alles zum Handeln. Die Nachrichten aus London werden von Woche zu Woche besser, im Mai, im Juni, im Juli 1943 - und die Maschine flötet: Jetzt braucht ihr mich! Die Heeresgruppe Afrika kapituliert, die Generaloffensive der Sowjetunion rollt, Amerikaner und Engländer landen in Sizilien, Mussolini ist am Ende - und die Maschine säuselt: Seid jetzt nicht feige! In der Stimme des Sprechers der BBC schwingt ein optimistischer Ton mit, als sei die Landung der Alliierten bald zu erwarten - und die Maschine flüstert: Packt mich aus, übt schon mal, bringt mich in Schwung!
Ein Jahr noch der Krieg und die Nazis, höchstens anderthalb, da sind die Freunde einig. Die Frage ist nur: durchhalten, überleben, defensiv - oder für die Zeit nach dem Krieg arbeiten, offensiv. Und die Maschine verspricht: Bei mir kriegt ihr beides, mit mir werdet ihr besser durchhalten und noch besser für die Zeit danach vorbereitet sein. Mit den Deutschen allein, das wissen die Freunde, ist die Demokratie nicht aufzubauen, ein demokratisches Europa muss das Ziel sein, deshalb die Verbindungen zu den ausländischen Arbeitern, da kann die Maschine helfen.
- Du willst deine Maschine in die Schlacht werfen, stimmt's?, sagt Georg endlich.
Robert nickt. Die Maschine kann, wenn man sie richtig benutzt, den Widerstand beflügeln und steigern. Aber sie steigert auch das Risiko, ins Visier der Gestapo zu geraten. Man kann mit ihr aus getippten Wachsmatrizen Flugblätter zaubern.
Wie kommt man in der Diktatur an einen Vervielfältigungsapparat? Mitte der dreißiger Jahre hat ein Wissenschaftler wie Dr. Havemann solch ein Gerät noch leihen können. Bei einer Firma, die eine patentierte Erfindung von ihm herstellte und vertrieb. Es genügte der Vorwand: für den wissenschaftlichen Austausch im Institut.
Georg wird nachgeben, das ahnt Robert. Erst vor kurzem hat er Georg nachgegeben, jetzt wird es umgekehrt sein. Bei der Suche nach einem Namen für die Gruppe hatte Robert vorgeschlagen: Sozialistische Demokratische Union. Und Georg sofort protestiert: Das klingt nach Sowjetunion, wir brauchen Begriffe, die nicht von der Propaganda versaut sind. Und bald den Namen Europäische Union vorgebracht, E. U., einstimmig angenommen. Und Robert, der Witzbold: Und wir vier sind das Zentralkomitee der E. U. Der jüngere braucht dem älteren, bedächtigen Freund nicht die kurze Rede zu halten, mit der er ein paar Tage später auch Herbert und den zögerlichen Paul zu überzeugen sucht: Jetzt, wo die Fronten näher
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