Mein Jahr als Mörder
Angelegenheit werden solle, da zieht einer der Herren die Disziplinarordnung hervor und zeigt auf § 1. Nicht würdig sei einer Stellung im öffentlichen Dienst, wer einer Kommunistenfiliale vorstehe und so weiter.
Am 7. Mai wird das Schreiben des Bezirksbürgermeisters an die leitende Amtsärztin ausgefertigt: Dienststrafe, fristlose Entlassung zum 9. Mai. Eigentlich hätte der Betriebsrat sie anhören müssen, eigentlich hätte der Betriebsrat zustimmen müssen, aber Recht und Gesetz sind nicht auf ihrer Seite. Im Bezirksamt stört sich niemand daran, dass der Betriebsrat erst zustimmt, als sie das Einschreiben schon in der Hand hält: fristlose Entlassung zum 9. Mai. Am 8. Mai jährte sich Georgs Hinrichtung zum siebten Mal.
Eine Woche später kann der Tagesspiegel triumphieren: Rote Propagandistin entlassen. Seitdem brennt es ihr auf der Stirn, auf dem Rezeptblock, auf dem Praxisschild, auf den Schulheften der Söhne, das neue Brandmal: rote Propagandistin. Es spricht sich herum bei den Nachbarn, beim Kaufmann, in der Wäscherei, beim Friseur, bei den fleißigen Leuten, denen der Hitlergruß flott von den Lippen kam vor sieben Jahren: rote Propagandistin. Es folgen Briefe und nächtliche Anrufe: Verschwinde, du rote Sau, Heil Hitler! Ihre Hausangestellte wird bedroht: Verlassen Sie diese Kommunistin, sonst geht es Ihnen schlecht! Und Patienten, die wenigen, die noch zu kommen wagen, werden auf der Straße von Unbekannten angesprochen: Warum gehen Sie eigentlich zu dieser roten Propagandistin? Gehören Sie etwa auch zu den Kommunisten?
Manchmal abendlang, manchmal nächtelang klingelt alle zehn Minuten das Telefon, sie ruft ihren Namen ins Leere, immer wieder, sie kann den Hörer nicht weglegen, weil sie für die Kranken erreichbar sein muss, das wissen die Anrufer und lassen sie alle zehn Minuten wieder zappeln. Zur Abwechslung werden sie auch mal laut: Euch hängen wir auf, ihr Kommunistenschweine! So wächst, gegen alle medizinische Vernunft, die Angst, verrückt zu werden. Zu ihrem Glück ahnt Anneliese nicht, dass sie erst am Anfang der Marterjahre steht.
Die Praxis ernährt die Familie nicht. Es fehlen die 780 Mark brutto. Sie muss die Mutter anpumpen, die Lebensversicherung beleihen. Sie hat Zeit zum Nachdenken. Manchmal biegt sie um die Ecke von der Lindenallee in die Ahornallee, wo das Haus stand, das sie mit Georg und den Kindern bewohnt hat, weggebombt im März 44. Da haben sie Juden versteckt, da haben sie Lebensmittel für die Versteckten gelagert, da sind sie in Todesgefahr gewesen und glücklich. Georg ist vergessen. Selbst Robert, der sie gelegentlich besucht, spricht kaum noch von der Europäischen Union, weil die Gruppe seinen SED-Genossen nicht passt, die nur den kommunistischen Widerstand gelten lassen. Niemand interessiert sich für das, was die vier getan, riskiert, versucht haben, als wäre die Hinrichtung hundert Jahre her.
Sie will nicht denken, was sie denkt: Musst du dich auch bald verstecken? Musst du dafür büßen, dass die Nazis Georg hingerichtet haben? Was ist deine Schuld? Dass du überlebt hast? Dass du nicht vergessen kannst? Keinen Krieg mehr willst und keine Nazis? Bleibt das Urteil von Freisler und Konsorten, das euch zu Volksschädlingen und Hochverrätern gemacht hat, in der Demokratie gültig?
Musst du das Feld räumen? In den Osten gehen? Was würdest du tun, Georg?
Ärzte sind gesucht in Ostberlin, sie könnte die besten Stellen kriegen, sie hätte Ruhe vor den nächtlichen Anrufen, vor schweinischen Briefen, die Söhne würden nicht mehr ange-pöbelt: Mit Kommunisten spiel ich nicht! In den Zeitungen drüben schreiben sie schon über die tapfere Frau Dr., sie passt gut in die Propaganda. Aber es bleibt die Scheu vor dem Osten, da geht es auch nicht demokratisch zu, da verschwinden Leute, da fliehen nicht nur Faschisten, da könnte sie noch mehr zwischen die Fronten geraten. Sie hat sich gewehrt, Georgs Urne auf dem Ehrenfriedhof der berühmten Genossen in Friedrichsfelde im russischen Sektor bestatten zu lassen. Die Urne liegt nun auf dem Friedhof Heerstraße im britischen Sektor, ganz in der Nähe, Anneliese braucht diese Nähe. Außerdem sind Mutter und Schwester im Westen, Georgs Familie in Unterhaun und Wehrda, die wenigen Freunde, außer Robert, wohnen in Charlottenburg. Und Georg flüstert: Du hast nichts Unrechtes getan, bleib standhaft, wehr dich, kämpf für dein Recht, du bist im Recht, geh vor Gericht!
Abeut, Abeut, Abeut
- Why do you hide yourself?,
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